Jeweils montags und donnerstags eine Stadtgeschichte Thomas Rottenberg

Standard

Es war vor einer Woche. Am Montag, glaube ich. Und als ich mit den Pappbechern in der Hand aus dem Ketten-Kaffeehaus kam, hört ich den Polizisten an der Kreuzung bis zu mir herüber brüllen: „Sind sie vielleicht blind?"

Am Weg zur Kreuzung, dort wartete G. mit dem Hund, überlegte ich, woran es liegt, dass die meisten Menschen versuchen, ein vermeintliches Manko ihres Gegenübers durch Lautstärke zu kompensieren. Aber das, erklärte mir G., als ich ihren Kaffeebecher gegen meine Hundeleine tauschte, sei diesmal gar nicht Thema: Der Polizist habe nämlich brüllen müssen - schließlich sei der, dem der Brüller gegolten habe, doch weit weg gewesen.

Verstärkte Präsenz

Weder G. noch ich gehören zu jenen Menschen, die sich in Wien sonderlich fürchten. Trotzdem freuen wir uns jedes Mal, wenn wir die in den letzten Monaten deutlich verstärkte Polizeipräsenz an diesem Eck registrieren. Schließlich stehen die Beamten aus gutem Grund an der Ecke Neubaugasse/Mariahilfer Straße: Eigentlich ist hier für so ziemlich alle außer Busse und Radfahrer Fahrverbot. Aber außer Taxifahrern, die für ein paar Meter Umweg Zusatzmaut kassieren wollen, nimmt dieses Fahrverbot kaum jemand ernst.

Weil sich das - ähnlich wie das kollektive Ignorieren des Stadtauswärts-Aufofahrverbotes im untersten Bereich der Gumpendorfer Straße - mittlerweile bis zur Behörde durchgesprochen hat, stehen da seit einiger Zeit oft Polizisten und walten ihres Amtes. Und beim Schanigartensitzen oder Buswarten kann man dann hören, dass dieser Bereich der Neubaugasse allem Anschein nach ausschließlich von bresthaften Greisen bewohnt wird.

Geriatrie & Sozialarbeit

Sie alle haben das unfassbare Glück, Kinder zu haben, die sie ständig mit dem Auto bis vor die Haustür bringen. Sie tun das, obwohl sie sonst wirklich nie auf die Idee kämen, eine Regel zu brechen. Und ein Fahrverbot ignorieren käme keinem von ihnen jemals in den Sinn. Aber gerade heute sei die Mama eben noch wackeliger gewesen als sonst.

So oder so ähnlich lautet die Standard-Ausrede der hier aufgehaltenen Fahrzeuglenker. Und wenn der Beamte diese soziale Großtat für die Aufbaugeneration nicht über die StVO stellt, erhebt sich ein Klagen und Schimpfen, das auch das umstehende und umsitzende Publikum erreicht. Aber das ist - da selbst (im Augenblick) nicht hinterm Lenkrad - herzlos: Es freut sich, wenn gestraft wird - und ist fast enttäuscht, wenn die Polizisten es bei einer Ermahnung bewenden lassen.

Diesmal anders

Das polizeilich gebrüllte „sind sie vielleicht blind" hätte da ganz gut in das übliche Konfliktszenario gepasst. Nur war die Sache halt diesmal anders: Während sie auf mich gewartet hatte, erzählte G. beim Weitergehen, habe der Polizist ohne mit der Wimper zu zucken alle Autos unbehelligt passieren lassen. Sogar als ein Busfahrer hinter drei Audis hupend, gestikulierend und blinkend den Beamten darauf hinweisen hatte wollen, dass er da nicht in die Station einfahren könne, habe der Polizist getan, als sei er gar nicht hier.

Denn heute hatte er eine andere Aufgabe: Auch wenn die Neubaugasse hier eigentlich de facto unbefahren sein sollte, hängt hier eben doch eine Fußgängerampel. Schließlich muss man dem Bus ja irgendwie freie Fahrt verschaffen. Aber wenn da kein Bus in der Station steht, ignorieren die meisten Passanten die Ampel. Und die Polizisten, die da die Fußgängerzone autofrei halten sollen, ignorieren das Ignorieren.

Heute aber, erzählte G., sei es anders gewesen: Der Polizist hatte einen Fußgänger angebrüllt. Und als er - der Passant - dann (bei grün) auf die Seite des Polizisten wechselte, hielt der ihn an und las ihm die Leviten. Dann ließ er den ziemlich perplex wirkenden Mann aber doch „ausnahmsweise" mit einer Verwarnung davonkommen. Während der Strafpredigt waren mindestens vier Autos durch die Fahrverbotszone auf die Mariahilfer Straße abgebogen. Aber eben alle bei grün. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 22. September 2008)