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Der Verlauf der "Schicksalslinie"

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Vom Libanon bis zum Roten Meer klafft ein mehr als 1000 Kilometer langer Riss. Die kaum von Vegetation verhüllte Narbe in der Erdkruste zieht sich wie ein Strich von Nord nach Süd entlang der Grenze zwischen Israel und Jordanien. Wo sich die Schlucht weitet, sind Seen entstanden; das Tote Meer ist der größte, es bildet die tiefste Senke der Erde. Und nach Meinung von Geologen ist der Riss gar eine Schicksalslinie der Menschheit.

Die Verwerfung hat den Aufbruch der Menschheit aus Afrika ebenso ermöglicht wie die Entstehung der modernen Zivilisation. Sie bildet wahrscheinlich auch den realen Hintergrund vieler biblischer Ereignisse. Die Geschichte der Schicksalslinie begann vor 30 Millionen Jahren, als unter Nordostafrika Magma aufströmte. Die Erdkruste schmolz auf und spaltete die Arabische Halbinsel von Afrika ab. Zwischen beiden Erdplatten senkte sich der Boden, in den Graben schwappte das Rote Meer. Arabien driftet seither nach Norden. Im Westen jedoch hakt die Bewegung. Wie bei einem Papier, das links festgehalten und rechts geschoben wird, reißt die Platte auf – das obere Ende des Risses ist die Tote-Meer-Verwerfung.

Vor rund zwei Millionen Jahren begann die spröde Naht, Einfluss auf das Schicksal der Menschheit zu nehmen, sagt Zvi Ben-Avraham von der Universität Tel Aviv. Gewaltige Kräfte wandelten die unwirtliche Wüstenlandschaft der Levante zum Vorteil der Frühmenschen: Tektonischer Druck hob die Flanken beidseits des Bruchs; Zuflüsse lieferten fruchtbaren Schlamm in die Erdspalte.

Landweg heraus aus Afrika

Die einstige Einöde wandelte sich in einen blühenden Lebensraum und bildete einen lebensfreundlichen Empfangsraum für die ersten aus Afrika ankommenden Menschen. Der einzige Landweg aus Afrika führt über das heutige Arabien. Nach der Öffnung des ergrünten Levante-Korridors nahm der Homo erectus den Ausgang aus Afrika, wie 1,4 Millionen Jahre alte Werkzeugfunde am Toten Meer belegen. "Es sind die ältesten frühmenschlichen Relikte außerhalb Afrikas", betont Ben-Avraham.

Viele Jahrtausende später ermöglichte die Schicksalslinie am Toten Meer einen weiteren bedeutenden Schritt der Menschheitsgeschichte: die Erfindung der Landwirtschaft. Das Klima in der Levante war wieder trockener geworden. Um ihre Nahrungsmittelversorgung sicherzustellen, begannen die Menschen vor rund 13.000 Jahren mit der Getreidezucht – Funde in der Gegend sind die ältesten Zeugnisse von Landwirtschaft.

Die Verwerfung am Toten Meer prägte somit die Entstehung der Zivilisation. Vor etwa 12.500 Jahren gründeten einige der frühesten Siedler an einer ergiebigen Wasserquelle nahe dem Toten Meer den Ort Jericho, die älteste bis heute besiedelte Ortschaft der Welt. Zahlreiche frühe Schriften aus dem Abend- und Morgenland erzählen von dort, nicht zuletzt die Bibel. In den Überlieferungen meist vernachlässigt wird jedoch die zum Teil zerstörerische Wirkung der Geologie in der Region, sagt der Seismologe Amos Nur von der Stanford-Universität in den USA. Die Eroberung der Stadt Jericho durch den Israeliten-Anführer Joshua etwa sei wesentlich von der geologischen Verwerfung geprägt worden. Der Bibel zufolge soll der Klang der Trompeten mit Gottes Hilfe die Stadtmauern zum Einsturz gebracht haben. Wahrscheinlich jedoch habe ein Erdbeben in der seismisch aktiven Region die Stadt zerstört, vermutet Amos Nur.

Schauplatz des Armageddon

Möglicherweise war es auch eines jener Beben, die Megiddo erschütterten, die jahrtausendelang wohl bedeutendste Stadt des Nahen Ostens. Megiddo lag auf einer Anhöhe im heutigen Nordisrael an der Handelsstraße zwischen Syrien und Ägypten. Der Ort – laut der biblischen Offenbarung des Johannes der Schauplatz der Entscheidungsschlacht "Armageddon" zwischen Gott und Satan (das Wort stammt von "Har Megiddo", "der Berg von Megiddo") – wurde mehrmals von Beben verwüstet.

Die Tote-Meer-Verwerfung kann jederzeit wieder mobil machen. Das nächste Beben könnte sogar eine Serie vernichtender Stöße auslösen, fürchtet der Geologe Ben-Avraham. Hat sich an einer Erdbebennaht wie dieser über lange Zeit Spannung angestaut, droht sie bei einem sogenannten Erdbebensturm wie ein Reißverschluss aufzureißen. Die Verwerfung könnte erneut zur Schicksalslinie werden. Die tektonische Labilität des Nahen Ostens, sagt Ben-Avraham, bedrohe die weltpolitische Stabilität: "Die Folgen eines Starkbebens im Nahen Osten sind unkalkulierbar." (Axel Bojanowski/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24.9. 2008)