Wien - Die ungebrochene Popularität eines Wladimir Putin, der sich selbst stolz einen Geheimdienstler nennt; die Schulbücher, die Stalin als großen Mann würdigen; das weitverbreitete Unverständnis für das Wesen der Demokratie - wer das heutige Russland verstehen will, kommt an diesem Buch nicht vorbei. "Die Flüsterer" von Orlando Figes sind, das kann man jetzt schon sagen, ein Hauptwerk zur Geschichte der Sowjetunion, besser: zur Geschichte der Menschen unter Stalins Herrschaft.

Wie die Menschen in diesen drei Jahrzehnten, aber auch während des milderen Stalinismus nach dem Tod des Diktators 1953 lebten, wie sie sich permanent verstellten, anpassten und mit dem Regime kollaborierten, um zu überleben, das prägt bis heute die russische Gesellschaft. "Nachdem ich all das studiert habe, die Geschichte der Unterdrückung in den Familien, ist mir ganz klar, was passiert ist" , sagt der britische Autor, der am Montagabend im Wiener Kreisky-Forum auftrat, im Gespräch mit dem Standard. "Politische Passivität, fehlende Opposition gegen Putin - das ist sozusagen eine Fehlhaltung, auf die die Leute zurückgekommen sind. Man braucht keine massive Unterdrückung mehr, man braucht nur Signale der Veränderung. Die Regierung hat diese Signale klar gegeben. Und die Leute reagieren darauf: Sie werden vorsichtiger und konformistischer, üben mehr Selbstzensur. Nicht aus Veranlagung, sondern weil sie Erinnerungen an das Stalin-System haben."
Dieses Verhaltensmuster sei über Generationen weitergegeben worden: "Man spricht nicht über Politik, man bleibt stumm" , sagt Figes und verwendet dafür das deutsche Wort.

In Figes' Buch finden sich dazu unzählige Episoden. Eine der berührendsten schildert der Schriftsteller Michail Prischwin in einem Tagebucheintrag vom 29. November 1937, zur Zeit des Großen Terrors. Er war im Zug einem guten Freund begegnet, der sich neben ihn setzte und etwas sagen wollte, aber inmitten der großen Menschenmenge dazu nicht fähig war. "Er wurde so nervös, dass er jedes Mal, wenn er zu einer Äußerung ansetzen wollte, die Fahrgäste auf der einen und dann auf der anderen Seite betrachtete und nur hervorbrachte: ,Ja ...‘ Und ich erwiderte das Gleiche, und so fuhren wir gemeinsam zwei Stunden lang von Moskau nach Sagorsk: ,Ja, Michail Michailowitsch.‘ - ,Ja, Georgi Eduardowitsch.‘"

Einmaliger Glücksfall

Dass die Menschen, auf deren Erinnerungen Figes' Buch basiert, nach Jahrzehnten ihr Schweigen brachen, ist einem einmaligen Glücksfall zu verdanken. "In den 1990er-Jahren waren die Leute noch nicht bereit, über diese teils sehr intimen Dinge zu reden, persönliche Beziehungen, die zerbrachen, Väter, die verhaftet wurden, Mütter, die nach 20 Jahren aus dem Arbeitslager zurückkamen. Hätte man sie nach ihrer politischen Einstellung gefragt, sie hätten das für eine Provokation gehalten. Die Erinnerung an den Kommunismus war noch zu frisch."

2002, als die Interviews für das Buch begannen, habe sich nicht nur das politische Umfeld, sondern auch die psychische Verfassung der Gesprächspartner geändert. Viele wollten sich ihre persönliche Geschichte und die ihrer Familien mit all den Widersprüchen und Verdrängungen von der Seele reden. In manchen Fällen hatten die Interviews durchaus therapeutischen Charakter. Mitunter sei es auch zu hysterischen Anfällen gekommen, berichtet Figes. Heute wären die Interviews nicht mehr möglich: "Mehr als ein Drittel dieser Menschen sind inzwischen gestorben. Und die anderen sind schon zu gebrechlich."

Welche mittelfristige Entwicklung Russlands erwartet der Historiker aufgrund seiner Erkenntnisse? "Nicht in Richtung Demokratie, so viel ist klar. Es ist eine Art kapitalistisches System, das von einer politischen Oligarchie kontrolliert wird. Aber es erlaubt die Entwicklung eines Mittelstandes. Das gibt den Leuten ein Element der Sicherheit, das man nicht unterschätzen sollte. Denn was die Russen nach all den Wirren des 20. Jahrhunderts am dringendsten brauchen, ist ein wenig Stabilität für ein normales Leben. Aber wenn sie eine offenere Gesellschaft werden wollen, müssen sie sich irgendwann ihrer Geschichte stellen." (Josef Kirchengast/DER STANDARD, Printausgabe, 24.9.2008)