Teil vier einer Kommentarserie zum Zustand der Austro-Demokratie im Vorfeld der Nationalratswahl '08: Impressionen eines Wahlösterreichers.

****

Gestern hat mir ein wildfremder Mensch auf der Mariahilfer Straße eine Mannerschnitte in die Hand gedrückt. Ich habe sie dankend angenommen, ohne etwas Böses dabei zu denken. Ich mag Mannerschnitten.

Das Geschenk entpuppte sich bald als problematisch. Es war fast unmöglich, die Verpackung aufzureißen, denn sie war von einem Pickerl verklebt, auf dem "Sozial, Entschlossen, Zuverlässig" zu lesen stand. Eine soziale Mannerschnitte, nehme ich an, ist eine, die geteilt wird und zuverlässig sind sie allemal, weil immer dasselbe drin ist, egal was man draufschreibt. Aber eine entschlossene Mannerschnitte?

Mit einem entschiedenen Riss durch "Entschlossen" drang ich endlich zu zuverlässigem Inhalt vor, den ich ganz unsozial allein konsumierte. Während die SPÖ Wahlzuckerln verteilte, hatte die ÖVP eine Blechblaskapelle und einige Mädchen im Dirndl engagiert, die heiles Österreichertum verbreiteten und Leaflets austeilten. Direkt daneben standen glücklich lächelnde Jugendliche mit Gitarren und gelben T-Shirts und verteilten Flugblätter: "Open your doors for Christ" stand darauf. Der national-soziale Spitzenkandidat der FPÖ war nur als grinsendes Konterfei anwesend. Jemand hatte einen Hitlerbart draufgemalt.

In fast jeder Wahl sind die Wahlslogans austauschbar (SPÖ: "Die neue Wahl" , ÖVP: "Die bessere Wahl" - oder war es andersrum?), aber man muss es den Marketingteams bei dieser Wahl ganz eindeutig lassen, dass noch selten so wenig Inhalt hinter so großen Sprüchen versteckt worden ist. Kaum ein Wort über Klimawandel, Europapolitik, die globalen Krisenherde, die Gestaltung der österreichischen Zukunft in Europa und in der Weltgesellschaft selbst; stattdessen Wahlzuckerln allüberall, Stückwerk. Dies ist die Wahl des absoluten Egoismus: Wählen sie weniger Mehrwertsteuer! Wählen sie Familienbeihilfe! Wählen sie Österreich den Österreichern!

Hohle Rhetorik

Es geht nicht mehr um Visionen sondern um Verpackung, etwa so, als habe Moses in der Wüste um Manna vom Himmel gebetet und es hätte, Sie haben es geahnt, Mannerschnitten geregnet. Die Verzwergung der Politik in den Großparteien war auch im TV-Duell der beiden Spitzenkandidaten sichtbar: Ein giftiges Hickhack ohne Überzeugtheit oder Überzeugungskraft. ÖVP und SPÖ vermeiden es peinlich, über wirklich wichtige Themen wie Wirtschafts- und Europapolitik oder die verpassten Chancen der letzten Regierung zu sprechen - und so ist ihr Wahlkampf auf eine Schlacht der Persönlichkeiten (großes Wort) und Marketingagenturen reduziert.

Das Dilemma der großen Parteien ist aber nicht auf Österreich beschränkt, es liegt wohl hauptsächlich darin, dass die großen ideologischen Schlachten im "alten" Europa längst geschlagen sind: Die zentralen und einstmals revolutionären Forderungen der sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien - Kranken- und Rentenversicherung, allgemeine Schulpflicht, Arbeiterschutz und der gesamte Rechtekanon der Aufklärung - sind im Verlauf des letzten Jahrhunderts auch vom bürgerlichen Lager angenommen worden. Kein bürgerlicher Politiker würde heute das allgemeine Wahlrecht oder das Gesundheitssystem infrage stellen, und Henryk Broder hatte nicht so unrecht, als er die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel höhnisch als die größte sozialdemokratische Führungsfigur seit Willy Brandt bezeichnete. Zwar stehen noch immer unterschiedliche weltanschauliche Ausgangspunkte zwischen den beiden großen Lagern, aber in der Praxis geht es - verglichen mit den großen Konflikten der Vergangenheit - um Fragen der Betonung, um Nachbesserung. Studiengebühren oder nicht? Keine Partei bezweifelt das Recht auf Ausbildung, es geht ums Wie, nicht ums Ob. Angesichts solcher Scharmützel ist es für Wähler nicht leicht, sich leidenschaftlich für eine Seite zu engagieren, zumal sie den Eindruck haben, jeder wolle ihnen die Butter vom Brot nehmen.

Für die sozialdemokratischen Parteien entsteht dadurch ein Rechtfertigungsdruck. Einerseits sind ihre historischen Forderungen längst umgesetzt, andererseits gibt es tatsächlich noch eine genuin linke Agenda, vor der Parteistrategen aber aus gutem Grunde zurückschrecken: Wenn wir heute in Westeuropa die ganz großen sozialen Kontraste nicht mehr kennen, wenn wir keine Unterschicht mehr haben, die an Hunger und Seuchen stirbt, noch nie eine Schule oder eine Arztpraxis von innen gesehen hat und sich jung zu Tode schuftet, dann ist das auch, weil wir unser Unrecht exportiert haben und direkt vom Elend der Dritten Welt profitieren.

Unsere billigen Lebensmittel und Industriegüter, unsere Rohstoffe und Luxusartikel wären undenkbar ohne soziales Elend, epidemische Umweltverschmutzung, Vasallenkriege und geduldete Diktaturen in anderen Ländern, und unser Reichtum ist zwar nicht ausschließlich aber auch durch die Krankheit, den Hunger und die Hoffnungslosigkeit von Menschen erkauft, die in ärmeren Ländern leben. Diese Ungerechtigkeit zu bekämpfen ist die große Herausforderung der Linken weltweit - nur weiß jeder Politiker, dass sich gerade in diesen von sozialer Angst geprägten Zeiten keine Wahl in Österreich, Frankreich, den Niederlanden oder in Deutschland gewinnen lässt, indem man höhere Steuern fordert, um im Sudan Schulen zu bauen, in Bangladesch die Wasserqualität zu verbessern oder in Afghanistan für Frauenrechte zu kämpfen.

Die Linke traut sich nicht an das ethische Herzstück ihrer Weltsicht heran, und dadurch verliert das bürgerliche Lager den Gegner, gegen den es sich konstituiert hat. Also bleibt es bei großer Rhetorik um kleine Unterschiede, denn jede wirkliche ideologische Alternative zur europäisch geprägten, sozialen Marktwirtschaft stellt einen manifesten politischen und kulturellen Rückschritt dar: Kommunisten, Rechtsaußen, Rettet Österreich, die Christen - das haben wir alles schon gehabt und es endete immer in Krieg und Zerstörung.

So bleibt es bei einer Manner-Wahl: unterschiedliche Slogans, drinnen dasselbe, wenn man denn rankommt vor lauter klebrigem Marketing-Speak. Die SPÖ hat unfreiwillig das ideale Wahlsymbol definiert, es lebe die entschlossene Mannerschnitte. (Philipp Blom, DER STANDARD, Printausgabe, 25.9.2008)