Foto: Orthochrome Archive

Hauchdünne Scheiben der sichtbaren Welt: Als nicht mehr Gewolltes bekommen Fotografien einen größeren Anteil am Flüchtigen.

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Erst mit Fortschreiten der technischen Möglichkeiten und dem Aufkommen einfach zu bedienender Kameras gewann der Schnappschuss an Bedeutung.

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Das Orthochrome Archiv für analoge Alltagsfotografie sammelt
und digitalisiert Bildmaterial, das sonst verlorengegangen
wäre, und stellt es für wissenschaftliche und künstlerische Zwecke zur Verfügung. Schenkungen von Einzelbildern und Sammlungen (Fotografien und Dias) sind willkommen.

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(Alle Fotos wurden mit der freundlichen Genehmigung von Ortochrome - Archiv für analoge Alltagsfotografie zur Verfügung gestellt)

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Der Mensch ist ganz geboren, und überall wird sein Leben zerstückelt. Was er tut, ist unvollständig, und was er wahrnimmt, bruchstückhaft. Deshalb werden private Erinnerungsfotos in ihrer Fragmenthaftigkeit meist nicht als sonderlich fragmenthaft empfunden, zu sehr ähneln sie unserer Alltagswahrnehmung.

Fotografien sind hauchdünne Scheiben, die jemand von der sichtbaren Welt heruntergeschnitten hat. Die Unvollständigkeit dieser winzigen Realitätsschuppen wird aber erst im Laufe der Jahre richtig augenfällig, wenn die Verbindungen zu den Lebenszusammenhängen, in denen die Fotografien entstanden sind, brüchig werden und schließlich nicht mehr halten.

Lange Jahre hat ein privater Schnappschuss seinen Platz an der Wand, im Album, im Schuhkarton oder im Portemonnaie, dann geht der Platz verloren. Das Portemonnaie wird gestohlen oder rutscht unbemerkt aus der Jacke. Jemand stirbt oder verliert die Lust am Besitz. Manchmal ist es ein eigenständiger Lebensanspruch, der jemanden dazu drängt, Ballast abzuwerfen, die Gründe dafür können vielfältig sein, zum Beispiel, dass ein Paar im Streit auseinandergeht und die gemeinsamen Erinnerungsfotos Gefühle wecken, die man sich lieber erspart. Auch die Funktionen des Vergessens müssen in Schuss sein und in Schuss gehalten werden, damit die Gegenwart nicht an der Vergangenheit erstickt. So wird durch biografische Ereignisse die Wichtigkeit von Dingen vernichtet; was einmal aufhebenswert war, ist jetzt im Weg. Fotografien werden auf die Straße oder auf den Müll geworfen und verlieren dadurch ihren Kontext. Jemand Toter oder jemand noch Lebender hat keine bildlich dokumentierte Vergangenheit mehr, und einigen Fotografien fehlt fortan der eingeweihte Besitzer, der für sie spricht. Für die Fotografien ist dieser Verlust einschneidend, denn im Gegensatz zu einer Porzellanvase oder einem Teddybär sind Fotografien elementar durch das definiert, was der Besitzer über das Abgebildete weiß. Reißt der ursprüngliche Informationstransfer zwischen Bild und Betrachter ab, verändert sich das Bild. Wird die Fotografie durch einen Überlieferungszufall aus dem Müll geborgen und so gegen den ihr bestimmten Untergang noch einmal verteidigt, geschieht dies um den Preis eines Weiterlebens im Exil - in einem neuen Zusammenhang. Vielleicht stehen die Fotografierten deshalb ein wenig verloren im Bild.

Anna Achmatowa sagt, Verse wachsen auf dem Müll. Marcel Mauss soll gesagt haben, dass eine Konservendose eine Gesellschaft viel besser charakterisiert als das prächtigste Schmuckstück oder die seltenste Briefmarke. Und auch die Erinnerungsforscherin Aleida Assmann kommt auf den Abfall zu sprechen, den eine Gesellschaft produziert: Das, was abgestoßen werde, informiere zufälliger über das Reale als das absichtsvoll Aufbewahrte.

Verse wachsen auf dem Müll

Als nicht mehr Gewolltes bekommen Fotografien einen größeren Anteil am Flüchtigen, sie verlassen ihren Sinnzusammenhang und werden in einem neuen Sinnzusammenhang bewusster wahrgenommen, für einen Moment, um sich dann auch im neuen Kontext wieder zu etablieren.

Mitte der 90er-Jahre besaß ich ein hölzernes Versandkistchen für den Transport einer Weinflasche. Das Kistchen war nicht besonders groß, mit auf der Seite eingebranntem Wappen des Château Talbot, darin verwahrte ich einige Dutzend vom Asphalt aufgelesener Fotografien, die nach meinem damaligen Geschmack nichts Besonderes waren, aber auch nichts zum Wegwerfen. Da ich nicht zum Altwarenfetischismus neige, stagnierten die Fotografien im Dämmer einer nur schwer zugänglichen Küchenlade jahrelang vor sich hin, bis im Zusammenhang mit meiner Arbeit mein Interesse an Alltagsdingen größer wurde. Von diesem Prozess mitgerissen, gewannen auch die Fotografien in dem Kistchen an Gebrauchswert, und ich begann meine Sammlung zu erweitern. Mittlerweile ist sie groß genug, dass man das Ganze nur mehr um den Preis heftiger Kopfschmerzen durchsehen kann, etwas, was für jede Sammlung, ob öffentlich oder privat, wie mir scheint, eine Art Ritterschlag bedeutet.

Flaubert sagt: Man muss eine Marotte haben, um sich in diesem Hundedasein aufrecht zu halten.
Seit ich in Wien lebe, seit bald achtzehn Jahren, wohne ich in der Nähe des Naschmarktes, wo am Samstag der wöchentliche Flohmarkt stattfindet. Dort werden nur mehr auf diesem Weg verwertbare Relikte angeboten aus den ausgeweideten Wohnungen unlängst Verstorbener. Gestorben wird immer, das Offert an privaten Erinnerungsfotos ist groß, es wird einem schwindlig vor lauter Gestapeltem und Gereihtem. Die Nachfrage hingegen hält sich in Grenzen. Weder muss man mit den Hühnern aufstehen, noch seine Ellbogen einsetzen. Zwar gibt es fast bei jedem Menschen empfindsame Stellen für private Schnappschüsse, sodass viel gestöbert wird, aber Käufer finden sich wenige. Privatfotos und Gelegenheitsaufnahmen bilden die wöchentliche Spreu, die sich am Ende des Tages als unverkäuflich erwiesen hat und zu Boden geworfen wird für das in Mannschaftsstärke mit schwerem Gerät anrückende Reinigungspersonal. Einige Stücke in meinem Besitz zeigen eine Prägung aus kleinen Dellen, die Dellen kommen vom Schmutz und von den achtlos über die Fotografien hinweg gegangenen Schritten.

So wandern die Seelen. Manche landen bei mir und bekommen vorübergehend ein neues Heim. Man kann sich fragen, ob mich kein Unbehagen beschleicht, wenn ich private Fotografien mir fremder Menschen mit nach Hause nehme. Aber die Antwort kommt leicht und schnell: überhaupt nicht. Fotografien, die am Flohmarkt verkauft werden, sind, wenn ich so sagen darf, nicht grad in allerbesten Händen. Flohmärkte sind Orte der Ungnade. Außerdem finde ich, dass auch Fotografien zirkulieren sollen, das hält sie frisch. Wenn sie zu lange in einem muffigen Schrank liegen, beginnen die Engel der Nostalgie über ihnen zu kreisen oder ein einschläfernder Geist des Archivs laugt sie aus. Wenn eine Fotografie zehn, zwanzig, dreißig Jahre lang einen bestimmten Zweck erfüllt und sich längst auch in die Bildplatte des über ihr wachenden Gedächtnisses eingeprägt hat, ist sie unweigerlich abgenutzt und hässlich wie eine allzu oft an derselben Stelle geküsste Reliquie - etwas, was auch für die inflationär reproduzierten Meisterwerke der bildenden Kunst gilt oder für Redewendungen, die durch häufigen Gebrauch abgeschliffen werden und irgendwann so glatt geworden sind, dass man sie nicht mehr hören kann.

Alles Kraut und Rüben

Ich habe eine Vorliebe für Schuhkarton-Sammlungen. Fotoalben sind mir als Genre nicht ganz geheuer, sie sind in etwa so interessant wie Soldatenfriedhöfe, wie allzu geometrisch angelegte Gärten. Die für Alben getroffene Auswahl räumt meist dem Repräsentativen und Eindeutigen den Vorrang ein gegenüber dem Spontanen und Fraglichen. Die säuberlich mit weißer Tinte gefertigten Beschriftungen engen das Abgebildete überdies ein. Mir gefällt es, wenn Fotografien zufällig zusammenfinden und in einem Durcheinander aus Papiersorten und Formaten, aus Schwarz-Weiß, Farbe und Foto-Sepia, aus Jahrzehnten und Generationen Nachbarschaften bilden und dennoch für sich bleiben und Eigenständigkeit behaupten.

Alles Kraut und Rüben: Die eine Fotografie ist klein, die andere groß, hier eine kartoniert und dort eine geknickt, eine ist verwackelt, eine gestochen scharf, die andere gekörnt, eine enthält mehr Schwarz als Licht, hier hat eine einen weißen gezackten Rand, ein anderer Rand ist gewellt, und einer zeigt Spuren von Nadelstichen. Etliche Fotografien sind vergilbt, anderswo finden sich blinde Flecken, die üblichen Hautkrankheiten dieser möglichst billig gefertigten und nicht sehr haltbaren Objekte. Manchmal gibt es auf der Rückseite ein Datum oder einen Ortsnamen oder beides, manchmal hebt ein Pfeil einen Kopf aus einer Gruppe heraus, manchmal ist eine Fotografie mit Lippenrot und Augenblau nachträglich koloriert. Eine Fotografie ist mit einem Namen versehen, Hans. (Was ist aus Hans geworden?) Eine trägt hinten die Nachricht "Nur für deine Augen" , obwohl vorne nichts Intimes zu sehen ist. Und eine ist abgeschabt und angenagt, als hätte jemand sie jahrelang mit sich herumgetragen. Dazwischen Negative, Postkarten, Bindfäden, Hosenknöpfe, Staubflocken und gerissene Haushaltsgummis.

Das Chaos im Schuhkarton weckt Neugier, wohingegen das Album für mich "ein Medium mit geringer Einschaltquote" ist, so hat Peter Sloterdijk Museen genannt. Mein Vorbehalt liegt einerseits am Rigiden des Albums, andererseits an der Offenheit der Situation im Schuhkarton, wo Bewegung möglich ist. Wie ja auch Schnappschüsse, die in Bewegung aufgenommen wurden, interessanter sind als gestellte Aufnahmen. Und ähnlich dem Schuhkarton repräsentieren Schnappschüsse weniger eine Idee als ein Ereignis, sie sind im Gegensatz zur gestellten Aufnahme weniger symbolisch, weniger bedroht von verlogener Empfindung und feierlicher Foto-rhetorik. Schnappschüsse sind wörtlicher gemeint.

In der Geschichte der Fotografie dominiert das gestellte Bild zunächst aus technischen und ökonomischen Gründen. Porträtaufnahmen hatten die Funktion von Existenzbeweisen. Vor einer gemalten Landschaft stellte man sich hin wie ein Ölgötze und sagte: "Sieh her, ich bin!" Im besten Fall wurden Szenen arrangiert: Der Metzger gruppierte sich mit seinen Gesellen vor dem Geschäft, und der Lehrling hatte ein noch lebendes Ferkel zwischen den Knien - eine Inszenierung für den Fotografen, ein Moment, der ohne den Akt des Fotografierens so nie stattgefunden hätte. "Sieh her, das sind wir!"

"Sieh her, das sind wir!"

Erst mit Fortschreiten der technischen Möglichkeiten und dem Aufkommen kleiner, einfach zu bedienender Kameras nach dem Ersten Weltkrieg gewann der Schnappschuss an Bedeutung, es entstanden zunehmend Momentaufnahmen, die nicht auf Anhieb bestimmte Absichten erkennen ließen. Schnappschuss ist für mich, was legitimen Anspruch auf die Würde eines unkonstruierten Moments erhebt und inhaltlich einen gewissen Alltagsdreck an sich kleben hat. Was früher Existenzbeweis war, wird jetzt zum hundert- und tausendfachen Beweis für Lebendigkeit. Jetzt lautet die Botschaft nicht mehr "Ich bin" , sondern "Ich bewege mich".

Schnappschüsse sind Ausschnitte aus der voranschreitenden Welt. Deshalb auch meine Ansicht, dass Roland Barthes danebenliegt, wenn er konstatiert, Fotografien seien im Gegensatz zum Film "ohne Zukunft" und besäßen "nicht den geringsten Drang nach vorn" . Allen Fotografien, vor allem aber Schnappschüssen, ist sowohl Stattgefundenes als auch Nachfolgendes eincodiert. Bilder enthalten nicht nur ein Woher, sondern auch ein Wohin und haben einen Anteil am Instabilen der bewegten Welt. Zwar weniger offensichtlich, aber sichtbar genug verwahren sie in sich die lebendige Augenblicklichkeit eines Geschehens.

Der über dem Schwimmbecken in der Luft fotografierte Springer wird in einer Flugbahn gesehen zwischen Beckenrand und Wasser. Das Platsch beim Eintauchen, das Geräusch des Wassers, das in der ehemaligen Zukunft stattgefunden hat, ist für uns nachträglich vorhersehbar und die Fotografie daher bewegt. Es ist, als wäre das Abgebildete nur durch den Rand im Bild gehalten, aber das Sehen schaut über den Rand hinaus. Sehen ist eine schöpferische Tätigkeit, wir visualisieren auch das, was nicht sichtbar ist, wir rechnen ein, dass die Welt niemals so statisch ist wie eine Fotografie. Wo das Abgebildete gänzlich erstarrt wahrgenommen würde, wäre auch die Fotografie tot. Wo die Ränder ins pure Nichts verlaufen würden, wäre auch das Zentrum leer. Wäre eine Fotografie etwas grundsätzlich Erstarrtes, würde sie in der Tat lügen, weil die Zeit nicht angehalten werden kann, wie Harold Brodkey sagt. Doch der Mensch ist sich dieses Naturgesetzes bewusst, und deshalb gilt: Schnappschüsse sind nicht gefrorener, sondern stellvertretender Moment. Mögen sie an den Tod erinnern, indem sie ihm zu trotzen oder ihn zu verleugnen versuchen, als Faksimile des Wirklichen stehen sie stellvertretend für gelebtes Leben und für weiterhin stattfindendes Leben.

Veränderte Stellvertretung

Auch das Stellvertreterhafte von Fotografien verändert sich, wenn sich der Kontext verändert, in dem eine Fotografie betrachtet wird. Dies geschieht bereits in den Augen der darauf Abgebildeten oder der Erstbesitzer. Zuerst heißt es: "Schau, das ist er, mein Traummann, ich liebe ihn." Zehn Jahre später: "Keine Ahnung, was ich an ihm gefunden habe." Doch nur der eingangs erwähnte Totalverlust an Kontext erfordert eine radikal neue inhaltliche Bestimmung, was aber neben allen Nachteilen auch Vorteile bringt. Störeffekte in der Betrachtung, das hat schon Walter Benjamin gesagt, können die Wahrnehmung intensivieren. Zum treuhänderisch dem Bild anvertrauten und weiterhin theoretisch darin verwahrten Stück Biografie fehlt dem neuen Betrachter zwar der Schlüssel. Aber das Fragmenthafte wird durch diesen Verlust um so schlagender - das ist es, was mich an den von mir adoptierten Fotografien am meisten interessiert. Das Fragment ist der Lehrmeister der Fiktion, schreibt André Malraux in seinem Imaginären Museum.

Die heimatlos gewordenen Fotografien verlieren mit der großen Verwandlung vom privaten zum anonymen Foto ihren kleinbürgerlichen Status, sie sind auf einen Schlag nicht mehr eingebettet in Lebensläufe und nicht mehr domestizierte Momente zur Dokumentation und Stabilisierung der Familie, zur Herstellung familiären Einvernehmens hinsichtlich der Vergangenheit, sie bekommen stattdessen Anteil am Mysterium des Unbekannten.

Anonyme Fotografien beweisen zwar, was Siegfried Kracauer 1927 geschrieben hat, dass unter der Fotografie eines Menschen seine Geschichte wie unter einer Schneedecke begraben sei, oder wie Roland Barthes es formuliert, dass das Foto nicht sagen kann, was es zeigt. Doch gleichzeitig fallen die störenden Absichten, mit denen eine Fotografie gemacht wurde, von der anonymen Aufnahme ab, das gleicht den Verlust, wie ich finde, ein wenig aus.

Ohne deswegen Kunst sein zu wollen, fliegt anonymen Fotografien etwas Poetisches zu, dieses Poetische ist ganz natürlich aus den Umständen entstanden und rührt von der überraschenden Offenheit her. Denn da diese Fotografien als private Erinnerungshilfen stillgelegt sind, werden die abgebildeten Momente entfesselt und sind fortan freie Radikale, die Andockstellen bieten, wo ein Betrachter die Möglichkeit entdeckt zu einer neuen inhaltlichen Bestimmung.

Der Betrachter ist nicht mehr von vornherein in die Szene integriert (als Mitglied derselben Familie oder Freund, der eine Fotografie gezeigt bekommt), sondern muss sich aus eigener Kraft integrieren, mit seinen Kenntnissen, seiner Leidenschaft, seinen Sehnsüchten und Ängsten. Das ist Teil der poetischen Herausforderung: die eigenen guten Geister und Gespenster entdecken. Wer bin ich? Wie stehe ich zur Welt? Was soll aus mir werden? Was wird aus mir werden? Ein anderer Teil der Herausforderung besteht darin, über die Erforschung von Verborgenem hinaus sich auf das Abenteuer der Erforschung dessen einzulassen, was nur möglicherweise war oder möglicherweise stattfinden könnte. Das macht auch die Betrachtung diskret; eine Intimität in den vernünftigen Grenzen der Fiktion.

Es ist die Kunst, von der Feder auf den Falken und von der Tatze auf den Tiger zu schließen.

Fotos auf Eigenwert reduziert

Und man sollte sich in Erinnerung halten, was D. H. Lawrence den Lesern von Büchern riet: nicht dem Erzähler, sondern der Erzählung zu trauen. Entsprechend ist man besser beraten, wenn man der Fotografie traut und nicht dem Fotografen. Man soll die Fotografien für sich selbst sprechen lassen, etwas, was bei anonymen Aufnahmen naturgemäß leichter fällt. Es vollzieht sich an ihnen ein ähnlicher Vorgang, wie wenn man von zu Hause auszieht. Jahrelang hatte man am Dorf und in der Familie seine Rolle zu spielen - doch sowie man in der Fremde angelangt ist, kann man sich neu definieren und wird auch von anderen neu definiert. Das kommt einer Befreiung gleich.

Ganz im Gegensatz dazu sind die meisten Fotografien, die uns in den Medien und in der Kunst begegnen, deutlich vorinterpretiert, sie packen uns am Handgelenk und insistieren auf einer bestimmten Aussage. Doch die Aussagen beginnen oft schon am nächsten Tag zu stinken. Anonyme Fotografien hingegen, ohne mit Nebeninformationen und Erzählungen garniert zu sein, werden weitgehend auf ihren Eigenwert reduziert, das macht sie so offen. Sie stehen nicht für etwas Bestimmtes, sondern für das Viele, das möglich ist und von dem man nur ungenaue Kenntnis hat. Sie sind als objekthafte Lebensspuren vieldeutiges Rohmaterial, sie sind ein Fenster zu Möglichkeitsformen, sie stacheln unsere Fantasie an, sie fordern uns eine intuitive Hochrechnung ab, wie ein Leben verlaufen sein könnte, um zu diesem Moment geführt zu haben. Und sie stimulieren unser Ahnungsvermögen für eine imaginäre Zukunft.

Alles Nachdenken, das nicht in der Zukunft endet, bleibt auf halbem Weg stecken und ist nicht wertvoller als ein Wurmstich. Fotografien mögen einem noch so strengen Fixierbad ausgesetzt gewesen sein, unter der Betrachtung müssen sie wieder anfangen, sich zu bewegen, sonst sind sie tot.

Und weil anonyme Schnappschüsse nicht mehr eine bekannte Wirklichkeit in Verkleinerung abbilden, sondern auf eine unbekannte Wirklichkeit deuten, wirken sie interessanterweise vergrößernd. Sie sind die einzig zugänglichen Anschauungen von etwas Unvertrautem und somit wirklicher als Abbildungen, die etwas zeigen, das man auch in natura vor Augen hatte. Sie bilden weniger ab, als dass sie sind. So paradox es ist: Je näher man einer Fotografie steht, desto kleiner erscheint sie im Verhältnis zur bekannten Realität, und je mehr Distanz man zu einer Fotografie hat, desto größer kommt sie einem vor, weil sie deutlicher Anteil hat an der Größe der ungewissen Welt, die uns nie gehören wird. (Arno Geiger, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 27./28.09.2008)