Nin (gespielt von Massud Rahnama) möchte genauso im Rampenlicht stehen wie seine Schwestern, die beide Sängerinnen sind.

Foto: Rainer Berson

Freies Spiel mit Geschlechterrollen: Nin probiert gern die Garderobe seiner Schwestern an.

Foto: Rainer Berson

Auf dem Weg zum Klo begegnet einer zum ersten Mal Nin. "Nins WC" prangert hier lässig auf Pappmaché geschrieben über den sonst üblichen symbolischen Wegweisern der Geschlechtszugehörigkeit: "Welches Klo ist nun das meine?" fragt sich da auch der erwachsene Mensch und es wird nicht die einzige Frage sein, die sich im Lauf des Kindertheaterstücks "Nins Archiv" für die Zusehenden ergibt.

Es ist ja auch eine komplizierte Sache, und das nicht nur für Erwachsene, sondern auch für Kinder: Bin ich eine Frau oder ein Mann? Kann ich gleichzeitig Nino und Nina heißen? Wie wäre es überhaupt, als Nin durch die Welt zu gehen? Was würden wohl die Klassenkollegen und -kolleginnen dazu sagen? Und finde ich dann jemals eine Freundin/einen Freund? Die neunjährige Kinderfigur Nin stellt sich diese Fragen unentwegt und nervt damit seine älteren Schwestern. Aus den Antworten der Verwandte und Bekannten sammelt er ein Archiv aus Geschichten, die erklären, wie sie zu Männern oder Frauen wurden. Anhand all dieser Erzählungen - fein säuberlich verpackt in Pappschachteln - entstand auch das Bühnenbild für "Nins Archiv".

Queeres Skript

Lilly Axter, Kinderbuchautorin und Theaterregisseurin, hat sich dem Phänomen der verordneten Zweigeschlechtlichkeit in der Welt auf undogmatische Art genähert: "Ich wollte damit kein großes pädagogisches Rezept umsetzen", so Axter gegenüber dieStandard.at. Das "Queere" an ihrem Stück sei zunächst einmal die Vermeidung von klischeehaften Figuren, die auf der Bühne stehen. "Queer ist für mich auch, dass Menschen den Versuch unternehmen, sich unabhängig von ihren Geschlechterrollen tatsächlich selbst zu bestimmen."

Bestimmend für das Stück ist auch die Arbeitsweise der erfahrenen Autorin: "Ich schreibe einfach darauf los und gehe nicht mit einer fixen Idee an die nächste Szene heran". Erwünscht sei natürlich, dass das Stück zum Nachdenken anrege. "Wenn neue Denkräume daraus entstehen, ist das wunderbar. Kinder bemerken, dass Platz für Fragen zu ihrem Geschlecht und zu ihrer Sexualität vorhanden ist und dass ihre Fragen okay sind. Letztendlich liegt es aber freilich in ihrer Hand, was sie damit anfangen", so Axter über das komplizierte Unterfangen, ein queeres Theaterstück für Kinder zu realisieren.

S-E-X-Träume beginnen früh

Die Autorin weiß, dass Sexualität und Geschlechterzugehörigkeit bereits für Kinder im Volksschulalter große Themen sind. Sie hält im Rahmen des Vereins Selbstlaut Workshops für SchülerInnen, wo es um Vorbeugung von Gewalterfahrungen und Missbrauch geht. "Bei Sex wissen alle, worum es geht. Was mich auch immer wieder überrascht ist, dass die Kinder meine eigene Sexualität sofort erkennen." Wissen über Geschlechterrollen ist demnach reichlich bei Kindern vorhanden, weshalb es auch keinen Grund gibt, sie nicht schon vor der Pubertät mit alternativen Konzepten jenseits der Zweigeschlechtlichkeit zu versorgen.

Neue Realitäten

Ganz nebenbei, so wie Geschlechterrollen verschoben bzw. aufgelöst werden, vermag "Nins Archiv" auch andere gesellschaftlich relevante Vorannahmen ad acta zu legen. Nins Familie schaut nämlich nicht aus wie die durchschnittliche Familie aus dem TV: Nin wird von dem erwachsenen Schauspieler Massud Rahnama gespielt, die Schwester Dee Dee von der schwarzen Schauspielerin Grace M. Latigo, Patty von der weißen Darstellerin Elisabeth Leopold. Alle drei bilden eine Familie mit unterschiedlichen Hautfarben und Sprachakzenten, und stehen somit eigentlich der Familienvorstellung der österreichischen Mehrheitsgesellschaft weit entgegen. Eine Darstellung, die Axter freilich bewusst gewählt hat: "Die Künstlichkeit von Theater ist für mich ein gutes Mittel, um Sehgewohnheiten aufzumachen, um Denkräume zu öffnen". Dass diese Verschiebungen nicht explizit angezeigt werden, sondern als Selbstverständlichkeit gelebt werden, ist eine der großen Stärken von "Nins Archiv". (Ina Freudenschuß, dieStandard.at, 28.9.2008)