Am 5.Oktober ist der Tag der Epilepsie: eine Erkrankung, die immer noch viele Menschen erschreckt.

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Manche Geschichten gehen dem Neurologen Christoph Baumgartner nicht aus dem Kopf. Etwa die des 17-jährigen Mädchen, das er vor wenigen Jahren behandelte. "Zwei Jahre hat sie in der Psychiatrie zugebracht, bevor jemand auf die Idee kam, dass sie einfach an epileptischen Anfällen leidet", sagt er heute kopfschüttelnd. Baumgartner selbst ist ein weltweit anerkannter Spezialist für Epilepsie am Neurologischen Zentrum Rosenhügel in Wien. Die Krankheit, die im Deutschen auch als Fallsucht beschrieben wird, gibt Medizinern genauso viele Fragen auf, wie sie Antworten präsentiert.

Elektrische Spannungsänderungen

In Österreich leiden etwa 65.000 Menschen an Anfällen, die manchmal über das Jahr verteilt und in schweren Fällen bis zu fünfzigmal am Tag auftreten können. Eine kleine Gruppe von Nervenzellen, die irgendwo im Gehirn liegen können, entlädt plötzlich eine Ladung sogenannter Aktionspotenziale, also elektrische Spannungsänderungen, über die sich Nervenzellen miteinander verständigen.

"Die Auswirkungen dieser neuronalen Gewitterfront können ganz unterschiedlich sein", sagt Baumgartner. Je nachdem, welcher Teil des Gehirns betroffen ist, gehören Veränderungen der Wahrnehmung, Zuckungen oder kurze "Blackouts" mit recht merkwürdigen Verhaltensweisen (Nesteln, Schmatzen, Kaubewegungen), die der Betroffene nicht kontrollieren kann, zum Repertoire der Symptome. Schließlich gibt es noch die großen Anfälle, die viele mit der Epilepsie assoziieren: Bewusstlosigkeit, Sturz, Verkrampfung am ganzen Körper, Zuckungen der Arme und Beine mit nachfolgendem Erschöpfungs- oder Verwirrtheitszustand.

Niemand ist davor gefeit

"Ein Hauptproblem der Erkrankung liegt in der Unvorhersehbarkeit der Anfälle", sagt Baumgartner. Man müsse sich vor Augen halten, dass jeder Zwanzigste irgendwann in seinem Leben einen epileptischen Anfall erlebt. Das können Kolleginnen, Freunde oder Verwandte sein. Meist bekommen davon weder Betroffene noch Außenstehende etwas mit. "Niemand ist vor epileptischen Anfällen gefeit, die Epilepsie tritt unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft und sozialem Status auf", erklärt Baumgartner. Allerdings sprechen die Mediziner dann noch nicht von "der Epilepsie".

Kein Epilepsie-Gen


Ererbt werden kann Epilepsie übrigens nicht. Zwar gibt es eine gewisse Veranlagung, aber meist sind äußere Schäden wie Hirnhautentzündungen, Verletzungen, Tumore oder Schlaganfälle die Ursache.

Behandelt wird mit sogenannten Antiepileptika oder Antikonvulsiva. Diese Medikamente stabili- sieren die Nervenzellmembranen und/oder die Balance der Botenstoffe zwischen den Nervenzellen wiederherstellen. "Seit Mitte der 90er-Jahre verfügen wir über zahlreiche neue Präparate, die wesentlich weniger Nebenwirkungen zeigen", so Baumgartner. Knapp zwei Drittel der Patienten lassen sich auf diese Weise gut mit Medikamenten behandeln; sie leben nahezu anfallsfrei.

Fehlgeschaltete Nervenzellen entfernen

Bei einem Drittel ist das nicht der Fall. Aus Gründen, die die Mediziner bis heute nur annähernd verstehen, reagieren sie nicht auf Medikamente oder werden resistent. "Diese Gruppe macht in Österreich immerhin noch 23.000 Menschen aus", so Baumgartner. Dabei lässt sich einem Teil dieser Patienten durchaus helfen - und zwar, indem Ärzte die Gruppe der fehlgeschalteten Nervenzellen aus dem Gehirn entfernen.

Dieser heikle Eingriff erfordert umfangreiche Vorbereitungsmaßnahmen, wie Christian Elger von der Uniklinik in Bonn betont. Vor der Operation müsse der Ort, von dem Anfälle ausgehen, exakt lokalisiert werden. Zudem versuchen die Mediziner sicherzustellen, dass durch die Operation keine neurologischen oder neuropsychologischen Ausfallerscheinungen verursacht werden. Tumoren oder Verletzungen am Hirn haben häufig verheerende Folgen für die Patienten - sei es, dass Fähigkeiten wie das Sprechen verloren gehen, oder es zu Persönlichkeitsveränderungen kommt.

Radikale Veränderung


Davon kann Elger eine Menge erzählen. Hat er doch einen persönlichen Star aus der Gruppe seiner Patienten. Der Bonner muss ein wenig über sich selbst schmunzeln, als er das sagt, doch der Fall, den er beschreibt, ist einzigartig. Sein Patient führte ein recht unstetes Leben. Er galt als jähzornig, verübte Raubüberfälle und landete schließlich im Gefängnis. Schon als Kind litt er unter Epilepsie-Anfällen, doch im Gefängnis nahmen die Attacken bedrohlich zu. Als er schließlich zu Elger kam, stellten die Ärzte fest, dass der epileptische Herd direkt hinter der Stirn im präfrontalen Cortex saß, dem evolutionsgeschichtlich jüngsten Teil des Gehirns - dem Ort, dem Hirnforscher moralisches und soziales Verhalten zuordnen. Das Resultat der Operation bei seinem Star-Patienten frappierte: Elgers operierte dem Mann nicht nur seine Epilepsie-Herd, sondern auch sein unkontrolliert aggressives Verhalten weg. Über Nacht wurde aus dem einstigen Kriminellen ein friedfertiger Mensch, der heute ein mittelständisches Unternehmen führt. (Edda Graba, MEDSTANDARD, Printausgabe, 29.09.2008)