Jürgen Habermas' "Aufgeklärte Ratlosigkeit" musste wache Wähler im Wahlkampf befallen. Noch nie war die sonst belebende Qual der Wahl des kleinsten Übels eine derart lähmende Quälerei. Noch nie war es unter so vielen Wahlwerbern so schwer nicht nicht oder ungültig zu wählen - immerhin rund jede(r) Fünfte hat so unpolitisch protestiert.

Noch nie wurde der Anlass so früher Beendigung der Legislaturperiode - die Pensionsautomatik und der EU-Schwenk der Sozialdemokratie - in der Wahlauseinandersetzung total ignoriert. Als hätten Wahlkampf und vorheriger Stellungskleinkrieg der einst Großen Koalition (GroKo) überhaupt nichts miteinander zu tun. Und noch nie wurden uns milliardenschwere, teils vergiftete Wahlbonbons auf unsere eigenen Kosten schon vor der Wahl hinuntergewürgt.

Es hatte für eine auch nur halbwegs funktionierende GroKo nicht gereicht. Den hilflosen Sozialdemokraten hatte der frustrierende Nichtvollzug der Partnerschaft und die ständige Bloßstellung ihrer Impotenz seit langem gereicht. Der zickigen ÖVP dann der flagrante Koalitionsbruch bei Pensionen und das FPÖ/BZÖ/KZ-induzierte Fremdgehen der SPÖ in Europa-Fragen, wo die gemeinsame Elternschaft für EU und Osterweiterung in Frage gestellt wurde - Scheidungsgründe fürwahr.

Bei der ÖGB-Kernschmelze BAWAG von Karibik bis Refco wurden im Nu Jahrzehnte finanziellen und Jahrhunderte kulturellen Kapitals der Arbeiterbewegung von einer Handvoll korrupter Funktionäre und Parvenüs verzockt. Jetzt hat die Sozialdemokratie, wie ihr erfolgreicher "Napalm"-PR-Fuzzi aus 2006 trocken konstatierte, Jahrzehnte europapolitischer Glaubwürdigkeit schlagartig vernichtet - oder doch mittelfristig schwer beschädigt.

Doch "es reicht" hat nicht gereicht; für keinen. Nicht für die ÖVP, die nichts als ein bissel Vorsprung anpeilte und dann nicht einmal verteidigen konnte; kein Wunder, angesichts mangelnder Themenführerschaft und Umfaller nach rinks und rechts. Nicht für die siegreiche Rechte, die untereinander verfeindet und kaum koalitions- bzw. mehrheitsfähig ist. Nicht für den neuerlich geschickteren Wahlkämpfer und ersten Verlierer SP, der zurück zur ungeliebten VP will. Und nicht für das Wahlvolk, wenn 23,5 Prozent Stimmverlust für die ehemaligen "Großparteien" seit 2002 noch immer nicht reichen, keine neue Verliererkoalition vorzuschlagen.

Der Wahlkampf 08 war eine chronische Beleidigung unser aller Intelligenz, von Anstand und Erinnerungsvermögen. Ein Exzess an Wählervertreibung, Publikumsbeschimpfung, "Verhöhnung" des Elektorats. Keine der Zukunftsfragen wurde auch nur erörtert: Bildungs-, Gesundheits- und Verwaltungsreform, geordnete Zuwanderung und Integration, sichere Pensionen, globale Finanzkrise. In der langen Nacht des Komastimmens und -Spendierens, 68 Stunden vor der Wahl, wurden 93 Prozent des Volumens der großen Steuerreform verjubelt. Statt überfälliger Entlastung von unerträglichen Abgaben auf Arbeit, die gerade für Kleinverdiener nicht mehr lohnt*, weiterhin keine selbstfinanzierenden Anreize für wertschöpfenden Erwerb.

Jetzt hilft wohl nur, nicht Hände falten und Goschen halten. Walter Benjamin's: Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns Hoffnung gegeben. (Bernd Marin, DER STANDARD, Printausgabe, 1.10.2008)