Von den internationalen Medien kaum bemerkt, steht Ungarn ganz im Banne des größten innenpolitischen Skandals seit dem Zusammenbruch des Kommunismus. Es geht nicht nur um den Kampf zwischen den zwei größten politischen Talenten: dem sozialistischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány und dem rechtskonservativen Fidesz-Chef (und Ex-Ministerpräsidenten) Viktor Orbán. Im Mittelpunkt steht der Generaldirektor der größten ungarischen Bank, OTP, und der mit Abstand reichste Mann Ungarns, der 55-jährige Sándor Csányi. Ihm haben laut einem von der Staatspolizei abgehörten Gespräch die Direktoren eines 2005 gegründeten privaten Schattengeheimdienstes (UD Zrt.) untertänig über den Stand einer Intrige zum Sturz der Vorsitzenden der kleinen konservativen Partei MDR, Ibolya Dávid, berichtet.

Diese mutige Politikerin, eine Rivalin Orbáns, hat dann einen Mitschnitt über eine innerparteiliche Verschwörung präsentiert, die in enger Zusammenarbeit mit Fidesz-Politikern dem Ziel folgte, sie bei dem kommenden Parteitag durch ihren Stellvertreter Kornél Almássy zu ersetzen.

Zahlreiche kompromittierende Mitschnitte stammen vom Amt für Nationale Sicherheit, der Geheimdienstminister György Szilvásy sprach im Parlament von einem "polypartigen Schattengeheimdienst" , der auch von zwei früheren Geheimdienstministern der seinerzeitigen Orban-Regierung Aufträge entgegengenommen haben soll. Die Fidesz-Leute beschuldigen die Regierung des Missbrauchs der staatlichen Geheimdienste und haben Anzeige gegen Szilvásy erstattet. Die 2005 gegründete "private" Personenschutz- und Datenverarbeitungsfirma UD Zrt wird von früheren hochrangigen Offizieren des kommunistischen Geheimdienstes geführt, und in diesem Sinn handelt es sich natürlich auch um einen "Bruderkampf" in der Schattenwelt der fünf (!) offiziellen Geheimdienste.

Ebenso offensichtlich ist, dass Regierungsstellen die brisanten Mitschnitte den liberalen oder linken Medien zugespielt hatten, obwohl die offiziellen Untersuchungen noch keineswegs abgeschlossen sind. MDF-Präsidentin Ibolya Dávid scheint bisher die moralische und politische Siegerin in dieser Affäre zu sein; ihr Rivale wurde aus dem MDF ausgeschlossen.

Am Montag rief dann Sándor Arnóth, ein Fidesz-Abgeordneter im Parlament, dem Stadtsekretär des Geheimdienst-Ministeriums, der über die Angelegenheit berichtet hatte, wütend zu: "Ihr werdet baumeln." Er musste sofort als Abgeordneter zurücktreten. Vorher entschuldigte er sich für seinen Ausbruch. Die Oppositionspolitiker greifen "Szilvásy und seine Bande" (wie seinerzeit die Sowjetpropaganda "Tito und seine Bande" ) und Premier Gyurcsány scharf an.

Was ist aber das Ziel des mächtigsten Oligarchen, der laut Zeitungsberichten sein Vermögen zwischen 2002 und 2008 auf 160 Milliarden Forint (über 600 Millionen Euro) verzehnfachte, der nicht nur die OTP Bank, sondern auch indirekt die Ölgesellschaft Mol und einen großen Teil der Elektronik und der Fleischindustrie sowie des Weinbaus und viele andere Wirtschaftszweige kontrolliert? Will der 55-jährige Sándor Csányi aus dem Schatten treten und die Weichen für die Ära nach Gyurcsány stellen? (Paul Lendvai/DER STANDARD, Printausgabe, 2.10.2008)