Volkmar Sigusch: "Geschichte der Sexualwissenschaft". Mit 210 Abbildungen und einem Beitrag von Günter Grau. 39,90 Euro / 720 Seiten. Campus, Frankfurt am Main 2008

Coverfoto: Campus

Sexualwissenschafter waren wir alle einmal. Behauptet zumindest die Psychoanalyse. Dreijährige, die schon wissen wollen, woher die Kinder kommen, befinden sich nach Freud in der Phase der "infantilen Sexualforschung". Auch der Begriff "Sexualwissenschaft" wurde von dem Analytiker geprägt, nämlich 1898 in einem Aufsatz.

Als Begründer dieses Faches kommt Freud aber nicht infrage. Und auch nicht der Nervenarzt Richard von Krafft-Ebing, dessen Psychopathia sexualis (1886) das weite Feld der Lüste und Wonnen mit einem Klassifikationsterror ohnegleichen überzog. Sondern der Norditaliener Paolo Mantegazza und der Ostfriese Karl Heinrich Ulrichs, beides heute weitgehend vergessene Pioniere ihrer Zunft, denen um 1870 der Begriff "Sexualwissenschaft" noch gar nicht zur Verfügung stand; Mantegazza sprach dagegen poetisch von der "Wissenschaft der Umarmungen".

In Volkmar Siguschs Geschichte der Sexualwissenschaft wird ihre wissenschaftshistorische Bedeutung jetzt ins rechte Licht gerückt. Der Frankfurter Forscher zieht mit diesem gewichtigen Werk die Bilanz seiner jahrzehntelangen Bemühungen um eine "kritische" Sexualwissenschaft. Diese fragt skeptisch nach "Licht und Schatten" ihrer prominenten Vertreter.

"Selten raffinierter Hund"


Weshalb die Sprache dieses beeindruckend kenntnisreichen Buches nicht immer sachlich ist, sondern mitunter erfrischend leidenschaftlich und parteiisch: Da wird eine dubiose Figur wie Christian Freiherr von Ehrenfels als "selten raffinierter Hund" bezeichnet oder Begriffe wie "Perversion" oder "Pädophilie" als "Käseglocken, die nicht verhindern können, dass das Dranghafte duftend und stinkend entweicht."

Für Sigusch waren beide, Mantegazza wie Ulrichs, ihrer Zeit weit voraus. Freilich könnten die Unterschiede kaum größer sein: Der Italiener, ein zu Lebzeiten in ganz Europa berühmter Arzt und Essayist, beschäftigte sich mit dem, was heute Heterosexualität heißt, stellte bereits sexualphysiologische Experimente à la Masters und Johnson an und war davon überzeugt, dass Frauen den Männern in Sachen Lustpotenz überlegen sind und ihnen eines Tages auch im Alltag gleichberechtigt gegenüberstehen würden. Ulrichs dagegen glaubte an die Existenz eines dritten Menschengeschlechts, den "Urningen"; mutig und selbstbewusst kämpfte er für die Rechte der Homosexuellen. Für Sigusch war Ulrichs, der mehrmals verhaftet und des Landes verwiesen wurde, "der erste, gewissermaßen historisch vorzeitige Schwule".

So modern und liberal gesonnen diese Anfänge der Sexualwissenschaft um 1870 auch waren, zu ihrer Hoch-Zeit in Deutschland, den Jahren der ersten "sexuellen Revolution" nach 1900, waren bei ihren Vertretern, unter ihnen viele deutsche Juden, Fortschritt und Rückschritt oft nur schwer voneinander zu trennen.

Der Berliner Arzt Iwan Bloch beispielsweise empfahl, bei onanierenden Frauen "wiederholte Aetzungen der Vulva" vorzunehmen, auch hielt er Homosexuelle für eine nur durch Internierung zu entschärfende Infektionsquelle der Gesellschaft. Selbst Magnus Hirschfeld, in der Weimarer Republik der bedeutendste Vertreter einer fortschrittlichen Sexualreform und von den Nazis ins Exil vertriebener Fürsprecher aller "sexuellen Zwischenstufen", überwies homosexuelle Patienten zur Kastration, um seine biologistischen Theorien zu beweisen. Für Sigusch ist das nach 1900 immer lauter gewordene Gerede von "Rassenhygiene", Degeneration und Eugenik ein Diskursstrom, in dem die meisten Sexualwissenschafter munter mitschwammen und dessen Gewalt sich nur Einzelne entziehen konnten. "Subjektiv", wie für Sigusch seine Disziplin letztlich ist, lässt sich auch bei jedem ihrer Vertreter ein individueller "blinder Fleck" aufzeigen.

Verdrängte Homosexualität

Bei vielen war es das Weibliche, wie bei Freud, der vom "dark continent" sprach. Bei anderen war es die Homosexualität: Für den von der Studentenbewegung wiederentdeckten Wilhelm Reich oder den Autodidakten Ernest Borneman bestand das sexuelle Ideal letztlich in dem, was Sigusch boshaft den "Coitus germanicus simplex" nennt; alles auch nur entfernt Gleichgeschlechtliche wurde von ihnen verdrängt.

Gerade der Fall des von den Medien lange als "Sexualexperte" gefeierten Borneman zeigt, warum die Zukunft der lange nur von Außenseitern betriebenen Sexualwissenschaft nur an den Universitäten liegen kann. Dort freilich hat sie mit der zu Siguschs Emeritierung beschlossenen Abwicklung des Frankfurter Instituts gerade eine Heimstätte verloren. (Oliver Pfohlmann/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 4./5. 10. 2008)