700 Kühe täglich: Singh Avtar und seine Frau Gauri vor der rotierenden Melkanlage.

Foto: Gerhard Mumelter

Im Tempel von Novellara trifft sich die Sikh-Gemeinde zum Gebet und zum gemeinsamen Feiern.

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Parmesan im Reiferaum: "70 Prozent werden mit Sonderangeboten verschachert."

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Novellara - Das Brüllen des Viehs, das vom Freien über eine Rampe ins Innere drängt, hört Singh Avtar längst nicht mehr. Schlafwandlerisch meiden seine braunen Gummistiefel die glitschigen Kuhfladen auf dem Beton. Neonröhren leuchten die Halle nur dürftig aus. Manchmal taucht ein Sonnenstrahl eines der wiederkäuenden Rinder kurz in einen Lichtkegel.

Seine Arbeit könnte Avtar auch mit geschlossenen Augen verrichten. Um 700 Kühe zu melken, bewegt sich der 52-jährige Inder kaum von der Stelle. Wie ein horizontales Riesenrad dreht sich die stählerne Plattform mit dem Fleckvieh langsam im Kreis. Zehn Stunden lang ziehen auf Augenhöhe hunderte praller Euter vorüber. Routiniert stülpt der Inder mit der grünen Gummischürze die vier Melkbecher über die Zitzen der Kühe, die seine Frau Gauri vorher mit Fett bepinselt hat.

Nur selten wechseln die beiden ein Wort. Zwischendurch zieht Avtar einen der bunten Schläuche zurecht oder tippt mit dem Finger auf einen Knopf der automatischen Melkanlage. Über die Monotonie seiner Arbeit will der Sikh nicht klagen. Auch darüber nicht, dass ihn der Daueraufenthalt im Stall "aus hygienischen Gründen" zum Haarschnitt und zum Verzicht auf den Turban zwingt.

Die Beschäftigung in einem der größten Viehzuchtbetriebe Italiens hat seiner Familie einen bescheidenen Wohlstand ermöglicht. Gewiss, die Größenordnung war gewöhnungsbedürftig. "Zu Hause im Punjab hatten wir nur zwei Wasserbüffel, die Milch für den Eigenbedarf lieferten", erzählt er. Dennoch: Einiges hier erinnert ihn durchaus an das fruchtbare Schwemmland seiner westindischen Heimat: die Bewässerungskulturen, das satte Grün der Felder, weidende Kühe, die unzähligen Fahrräder - und die sommerliche Mückenplage.

Am Wochenende radeln Avtar, Gauri und ihre zwei Kinder den Kanal entlang. Durch Pappelalleen und abgeerntete Maisfelder steuern sie auf die Industriezone von Novellara zu. Natürlich hat der dort errichtete Fertigbau nichts gemein mit dem üppigen Prunk des goldenen Tempels von Amritsar, der heiligste Stätte der Sikhs. Immerhin: Zum zweitgrößten "Gurdwara" Europas (das größte steht in England) strömen jedes Wochenende mehrere Tausend Shiks in ihren traditionellen Gewändern. In der weiträumigen Speisehalle wird gemeinsam gegessen, im Obergeschoß trifft sich die Religionsgemeinschaft zum Gebet und zum Feiern ihrer Feste.

Totti sticht den Guru aus

Auch Besuchern wird gerne ein Teller Reis und Gemüse gereicht. Der lichtdurchflutete Tempel mit dem Heiligen Buch steht jedem offen - ohne Schuhe und mit bedecktem Haupt. Zu hören ist hier ausschließlich Punjabi, das bei Kindern oft schon mit italienischen Brocken durchsetzt ist. Die jüngsten Sikh-Generation verehrt Francesco Totti inniger als Guru Nanak und schätzt die Adidas-Kluft mehr als die elterlichen Kniehosen. Bir Gurjot Singh lebt seit zehn Jahren in Novellara. "Ich bin ein Indo-Italiener", gesteht der 18-Jährige unter dem kunstvoll gebundenen Turban. Den lokalen emilianischen Dialekt beherrscht Bir nahezu perfekt, sein Italienisch ist akzentfrei. "Mit zwei Identitäten lebt man besser als mit einer", lächelt der Maturant, der sich für Sozialprojekte engagiert.

Daran fehlt es in Novellara freilich nicht, ist der Ort doch ein für italienische Verhältnisse ungewohnter Schmelztiegel: 65 Nationalitäten leben in der 13.000-Einwohner-Gemeinde südlich des Po. Am Sonntag flanieren die indischen Familien über den Hauptplatz bis zum mächtigen Schloss der Gonzaga. Vorneweg die langen Bärte der Männer, gleich dahinter die farbenfrohen Saris der Frauen. Muslime in weißen Gewändern unterhalten sich vor ihrem Gebetsraum, Grup-pen jugendlicher Chinesen sind in Videospiele vertieft.

Für Bürgermeister Raul Daoli stellt die Multikulti-Kommune eine "tägliche Herausforderung" dar. Wenn er sein zehnstöckiges Wohnhaus verlässt, steigt dem 37-Jährigen "in jeder Etage ein anderer Duft in die Nase": das Frittieröl der Chinesen, der Knoblauch der Pakistani, der Curry der Inder, die Tortellini der Einheimischen. Der Ausländeranteil bewegt sich in Novellara auf die 20 Prozent zu, 36 Prozent aller Geburten entfallen auf Immigrantenfamilien. Dass der Ort "klein, friedlich und überschaubar" ist, erleichtert dem Bürgermeister sein ehrgeiziges Integrationsziel. Doch seit die Lega Nord bei den Parlamentswahlen erstmals Breschen in die traditionell roten Hochburgen zwischen Reggio und Modena schlug, spürt Daoli "einigen Widerstand".

Eine Form der Dummheit

Ausländerfeindlichkeit hält der Unternehmer Ivan Tirabassi für "eine Form der Dummheit". "Wer, bitte, soll denn die Arbeit verrichten, für die sich unsere Leute zu gut sind?", erregt sich der rundliche Industrielle, dessen mittelständisches Unternehmen Bauteile für Fahrzeuge produziert. Die pakistanischen Shiks in seinem Betrieb kommen alle aus derselben Familie. "Brüder, Cousins, Onkel - das erleichtert die Integration. Wenn einer einmal länger Urlaub macht, springen die anderen für ihn ein."

Fabrikarbeit ist unter den Shiks eher die Ausnahme. Rund 50.000 indische Immigranten melken die Kühe der Poebene und verarbeiten die Milch zu Käse. "Ohne Sikhs müssten wir die Herstellung von Parmesan einstellen", gesteht Maurizio Sassi. "Unsere Genossenschaft ist auf sie angewiesen."

Den Indern bescheinigt der Agronom "Erfahrung, Zuverlässigkeit und Geduld im Umgang mit Tieren." Das Melken gehöre zu jenen Arbeiten, die kein Italiener mehr verrichten will: "Wer geht denn heute noch in den Stall?" Den Anteil der Inder in den Viezuchtbetrieben der Lombardei schätzt Sassi auf 80 bis 90 Prozent.

Wie Avtar haben die meisten Sikhs hier eine Familie gegründet. Mit seinem Job ist der Melker "sehr zufrieden", doch das Pensionsalter will er nicht abwarten. "Noch drei Jahre, dann kehren wir nach Indien zurück. Dort können wir von unseren Ersparnissen gut leben."

Über die Entscheidung der Kinder machen sich die Eltern wenig Illusionen. Keiner der Jungen träumt von der Rückkehr. Bobby Harvinder und ihr Mann Singh etwa haben sich für Italien entschieden. Ihre Kinder sind in Novellara geboren. Die verfolgen zwar das Punjabi-Programm im Fernsehen, doch die Heimat ihrer Eltern kennen sie nur von Besuchen: "Alle vier Jahre, sonst ist der Flug zu teuer." Auf Berufswünsche wollen sich die beiden noch nicht festlegen. Eines ist aber sicher: Melken kommt auf keinen Fall infrage. (Gerhard Mumelter/DER STANDARD, Printausgabe, 14.10.2008)