Quelle: Ferentinos
Quelle: Ferentinos

Es muss viel los gewesen sein im Hafen von Helike an jenem verhängnisvollen Wintertag im Jahr 373 vor Christus. Zehn große Kriegsschiffe aus dem Nachbarland Sparta hatten am Kai der griechischen Hafenstadt im Golf von Korinth festgemacht. Der Besuch dürfte viele Händler und Schaulustige in den Hafen der geschäftigen Metropole gelockt haben.

Helike war Hauptstadt des Achaiischen Bundes, einer Art Hanse der Antike. Die Stadt war zudem das religiöse Zentrum der Region. Täglich versammelten sich Pilger im Tempel zu Füßen der bronzenen Poseidon-Statue. Dort baten sie den Gott des Meeres um Schutz vor den Naturgewalten.

Ein Unglück voller Rätsel

Doch diesmal wurden ihren Bitten nicht erhört. Als man sich in Helike an jenem Abend schlafen legte, ahnte niemand, dass es kein Erwachen geben würde. In der Nacht ereignete sich eine der mysteriösesten Katastrophen aller Zeiten: Die ganze Stadt verschwand. Im Morgengrauen war dort, wo Helike gerade noch stand, nur Schlamm und Wasser zu sehen. Allein die Poseidon-Skulptur ragte hervor. Noch Generationen später verfingen sich Fischernetze in der bronzenen Statue.

Es blieben die einzigen Spuren der großen Metropole. "Niemals davor oder danach verschwand eine ganze Stadt", sagt der Archäologe Robert Stieglitz von der Rutgers University in den USA. Der Untergang Helikes habe möglicherweise 13 Jahre später Platon zur Niederschrift seiner Atlantis-Geschichte inspiriert.

Jahrhundertelang sehnten Archäologen die Entdeckung der Ruinen Helikes herbei. "Unter der Erde liegt eine Zeitkapsel aus dem Goldenen Zeitalter der Griechen", schwärmt Steven Soter vom American Museum of Natural History in New York. Die Erdmassen hätten das Leben der Antike wie ein Schnappschuss festgehalten, sagt der Archäologe.

Nirgendwo ließe sich das Leben jener Zeit, das die Grundlagen der westlichen Zivilisation schuf, besser erkunden als in Helike. Auch Schatzsucher sind hinter der verlorenen Stadt her, denn mit der reichen Metropole gingen jede Menge Gold und andere Schätze unter.

Antike Quellen geben Auskunft über ihre Lage. "Wo gesucht werden muss, scheint eindeutig", sagt Katrin Boldt, Geowissenschafterin an der Universität Marburg, die an den Forschungen beteiligt ist: sieben Kilometer südöstlich der Ortschaft Egio an der Südküste des Golfes von Korinth.

Dort begannen 2001 Ausgrabungen unter Leitung der Archäologin Dora Katsonopoulou. Sie förderten tatsächlich antike Ruinen zutage, die allerdings einige Jahrzehnte jünger waren als Helike. Auch Relikte aus der Bronzezeit kamen zum Vorschein. Von Helike jedoch entdeckten die Archäologen allenfalls ein paar Tonscherben, die Stadtruine wurde noch nicht gefunden.

Neue Theorie des Untergangs

Eine neue Studie könnte die Archäologen auf die richtige Spur bringen. Helike sei auf andere Weise untergegangen als angenommen, berichtet George Ferentinos von der Universität Patras in Griechenland. Eigentlich schien die Ursache des Desasters längst festzustehen: Ein Erdbeben habe Helike zerstört und Tsunamis über die Stadt geschickt, vermuteten Experten einhellig. Zeitgenössische Quellen berichten von heftigen Erdstößen am Tag des Untergangs.

Doch die Theorie sei falsch, behaupten Ferentinos und sein Kollege George Papatheodorou. Nicht das Meer sei über die Stadt gekommen, sondern umgekehrt: Die Stadt sei ins Meer gekippt. Das Erdbeben habe das gesamte Fundament der Stadt ins Meer rutschen lassen und nur einen See hinterlassen. Eine schlechte Nachricht für die griechische Küste - das Desaster könnte sich wiederholen. Während vor Tsunamis gewarnt werden kann, gibt es kein Entkommen, wenn der Untergrund kollabiert.

Ferentinos und Papatheodorou haben die Katastrophe von Helike mit Akribie nachvollzogen. Zunächst prüften die Geologen die Erdbeben-Brüche im Golf von Korinth. "Das schwerstmögliche Erdbeben in der Region hätte die Stärke 6,7", berichten sie. Solch ein Schlag hätte zwar jede antike Stadt verwüstet, aber verschwunden wäre Helike nicht. Der entsprechende Tsunami wäre maximal 1,10 Meter hoch gewesen, haben die Geologen ermittelt - "zu wenig Wasser, um Helike für immer zu fluten", sagt Ferentinos.

Im Golf von Korinth können zwar, von untermeerischen Lawinen ausgelöst, auch höhere Tsunamis wüten. Zehn Meter hohe Flutwellen donnern in solch einem Fall 1,2 Kilometer landeinwärts. Doch Helike hätte dabei nicht verschwinden können, denn der Hauptteil der Stadt lag zwei Kilometer von der Küste entfernt. Noch höhere Tsunamis hätten auch andere antike Metropolen am Golf von Korinth verwüstet. Davon ist nichts bekannt.

Es bleibe nur eine Ursache für den Untergang von Helike, sagt Ferentinos: Die Stadt sei ins Meer gerutscht. Das Erdbeben habe den Boden unter der Stadt so durchgeschüttelt, dass er sich quasi in eine Flüssigkeit verwandelt habe. "Bodenverflüssigung" ist bei sandigem Untergrund eine gefürchtete Folge von Erdbeben, Hochhäuser sinken in den Boden und stürzen ein.

Die Erschütterungen treiben das Wasser zwischen den Sandkörnern heraus, es bildet sich flüssiger Matsch. Wattwanderer kennen das Phänomen: Festes Auftreten drückt das Wasser aus dem Watt-Boden, es sammelt sich als kleiner See an der Oberfläche. Der zuvor feste Sand wandelt sich in weichen Schlamm - der Fuß sinkt ein.

Ins Rutschen geschüttelt

Anschauung für die Helike-Katastrophe lieferte 1995 ein Erdbeben der Stärke 6,2 in der Nähe von Aigio. Die Erschütterungen ließen einen unbewohnten Küstenstreifen ins Meer rutschen, berichtet Ferentinos. Das Ereignis bestätige seine dramatische Theorie: Das Erdbeben in jener Winternacht 373 vor Christus schüttelte demnach eine 15 Meter dicke Bodenschicht mitsamt Helike ins Meer, den entstandenen Krater flutete das Meer.

Möglicherweise müssen die Archäologen also vor der Küste suchen. Der Meeresgrund sei allerdings bereits mit Schallwellen abgetastet worden, berichtet Helmut Brückner von der Universität Marburg. In den vergangenen 2500 Jahren haben jedoch Flüsse große Mengen Sand und Schlick ins Meer gespült. "Vielleicht", sagt Brückner, "liegen die Ruinen Helikes unter einer mächtigen Sedimentschicht am Meeresgrund." (Axel Bojanowski/DER STANDARD, Printausgabe, 15.10.2008)