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Ein streitbarer Zeitgenosse und Denker ist der französische Philosoph André Glucksmann, der am Sonntag im Wiener Volkstheater über "Globalisierung und Gewalt" referieren wird. Im Vorfeld führte er folgendes Gespräch mit Claus Philipp und Christoph Winder.

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STANDARD: Monsieur Glucksmann, Sie werden am Sonntag in Wiener Volkstheater zum Thema "Was ist Terrorismus?" referieren. Wir möchten diese Frage zu Beginn unseres Gesprächs gleich gerne an Sie weitergeben.

André Glucksmann: Es scheint mir wichtig hervorzuheben, dass Terrorismus nicht nur ein physisches Geschehen ist, es ist auch ein psychologischer Vorgang. Er zielt gleichzeitig auf Körper und den Geist ab. Deshalb ist es auch ganz wesentlich, auf welche Art man ihn betrachtet. Der Begriff "Terrorismus" muss neu überdacht werden angesichts des Attentats vom 11. September, des größten terroristischen Attentats der Geschichte.

STANDARD: Was muss grundsätzlich neu gedacht werden?

Glucksmann: Ich bin der Meinung, dass dieser Vorfall genau so gravierend war wie die Vorahnung von und die Vorbereitung auf Hiroshima.

Als man von Manhattan als von "Ground Zero" gesprochen hat, hat niemand das Urheberrecht für diese Bezeichnung reklamiert, aber alle haben es verstanden: "Ground Zero" war der Name des letzten Experimentierfeldes in Neu-Mexiko, wo man kurz vor dem Abwurf auf Hiroshima und Nagasaki versuchsweise eine Mini-Atombombe gezündet hat. "Ground Zero" war tatsächlich eine Anspielung auf eine Nuklearexplosion. Die Leute empfanden also den 11. September als genauso bedeutsam wie die Erfindung der Atombombe.

STANDARD: Was wäre für Sie die Essenz dieses Begriffes Terrorismus?

Glucksmann: Ein vorsätzlicher Angriff auf unbewaffnete Zivilisten.

STANDARD: Gibt es Ihrer Meinung nach einen quantitativen oder einen qualitativen Unterschied zwischen früheren terroristischen Akten und 9/11?

Glucksmann: In der Reihe all der Angriffe auf Zivilisten, der Attentate oder der Kriege gegen Zivilbevölkerung gibt es nun einen Höhepunkt insofern, als dieser Angriff das Ausmaß einer verheerenden Verwüstung annimmt. Manhattan bedeutet, dass dieses massive Zerstörungspotenzial, das sich in den Händen von weniger als ein Dutzend Atommächten befand, nunmehr der gesamten Menschheit zur Verfügung steht.

Mit einem Messer kann man 3000 Personen töten, indem man ein Flugzeug entführt, aber man kann auch ein Atomkraftwerk angreifen. Man kann also eine Verwüstung anrichten, die bis zum 10. September den Atomgroßmächten vorbehalten war. Es gibt hier also etwas, das größer geworden ist, das sich verändert hat, mutiert ist.

STANDARD: Welches sind die Konsequenzen, die aus dieser neuen Qualität des Terrorismus folgen?

Glucksmann: Eine der großen Veränderungen in der Weltordnung ist die Transformation des Begriffs der Kräfteverhältnisse. Traditionell versteht man seit dem Westfälischen Friedensvertrag unter "Mächten" vor allem Staaten mit einem Machtpotenzial, welches gleichermaßen aufbauen kann wie vernichten. Der Begriff Macht umfasste in der ganzen modernen Philosophie für Diplomaten und Politiker diese Verbindung von aufbauender und destruktiver Macht. Selbst während des Kalten Krieges hatten die beiden Blöcke denselben Anspruch - ob zu Recht oder nicht, das ist eine andere Sache -, eine bessere Welt zu erschaffen.

Wenn heute aber Russland zur G-8 zugelassen wird, dann ist der russische Präsident Vladimir Putin nicht zugelassen als Repräsentant einer bedeutenden Wirtschaftsmacht oder einer Wirtschaft mit Zukunft, die mit irgendeiner der anderen G-7-Länder vergleichbar gewesen wäre. Die Macht Putins ist keine wirtschaftliche, keine ideologische, keine kulturelle, es ist vor allem die Macht des zweitgrößten Waffenhändlers und der zweitwichtigsten Atommacht der Welt. Das heißt: Sie ist also im Wesentlichen eine rein destruktive Macht. Und diese heutige Definition von Macht in erster Linie als Zerstörungsfaktor ist etwas ziemlich Neues.

STANDARD: Im Moment gibt es eine große Debatte über das Destruktionspotenzial des Irak, den Gedanken, dass der Irak eine Zerstörungskraft entwickeln könnte, die es ihm erlauben würde, terroristische Akte entweder selbst durchzuführen oder zu unterstützen: Wie urteilen Sie darüber?

Glucksmann: Das Problem des Irak ist kein spezielles. Wenn Sie Russland nehmen, so hat es ein fantastisches Vernichtungspotenzial, was dazu führt, dass, obwohl es ein ganz kleines Volk von 700.000 Einwohnern, die Tschetschenen, niedermetzelt und ausrottet, absolut niemand dazu Stellung nimmt.

Wenn wir nicht gegen die Mächte der Vernichtung handeln, werden sie immer größer und gefährlicher. Es ist unsere Feigheit vor der Macht der Vernichtung, die das Unglück der Tschetschenen ausmacht - und die Gefährlichkeit der Lage. Auch der Irak muss im Zusammenhang dieser Zerstörungsmacht verstanden werden. Saddam ist ein schrecklicher Diktator, und Saddam ist ein Diktator mit Ambitionen, das hat er nie verhehlt. Als er Kuwait überfallen hat, da war das klarerweise nicht wegen des kuwaitischen Erdöls, davon hat er selbst genug. Er tat es, um der starke Mann dieser Region zu werden.

Wenn man ihm Kuwait überlassen hätte, dann hätte er - weil er der Mächtigste gewesen wäre - Saudi-Arabien regiert, direkt oder über eine Mittelperson. Das ist der wichtigste Einsatz im Spiel. Und warum gerade Riad? Weil es über riesige Erdölschätze verfügt und einflussreich ist, was die Finanzen und vor allem was die Religion angeht.

Wem Mekka gehört, der kann schnell die Meinung hegen, er sei in der Lage, 300 Millionen Araber zu mobilisieren und eine Milliarde Muslime. Da ist ein fantastischer Einsatz im Spiel, eine Weltmacht, und es ist ganz klar, dass Saddam Hussein diese Macht anvisiert, das ist seine Ambition.

STANDARD: Sie glauben, aus dieser Perspektive sei ein vorbeugender Militärschlag, ein "preemptive strike", wie das in der US-Terminologie heißt, moralisch gerechtfertigt? Würden Sie einen solchen Militärschlag befürworten?

Glucksmann: Allgemeine Begriffe wie "Präventivkrieg" oder "gerechter Krieg", erscheinen mir völlig theologisch. Man muss jeden Fall einzeln betrachten, und im Fall des Irak denke ich, dass Saddam Hussein ein Mörder ist, dass er auch in der Zukunft Morde plant und dass das Aufhalten eines Massenmörders eine gute Sache ist.

Ich war gegen Milosevic, ich denke, wir hatten das Recht, gegen ihn zu intervenieren, ich denke, wir haben viel zu lange gezögert, gegen Milosevic einzugreifen. Ich hatte das seit 1991 verlangt, es dauerte ganze acht Jahre. Ich glaube nicht, dass Saddam Hussein netter, weniger gefährlich und humaner, sondern im Gegenteil grausamer ist als Milosevic. Die Behandlung, die man Milosevic angedeihen lässt, muss auch auf Saddam Hussein angewendet werden, zum Wohle der Iraker und zugunsten des Weltfriedens.

STANDARD: Wie beurteilen Sie die Politik von Jacques Chirac in dieser Frage?

Glucksmann: Ich glaube, das ist keine Position, die er vertritt, sondern eine Opposition, und dass sein Problem nicht Saddam Hussein, sondern Bush ist. Es ist eine Rivalität mit Bush. Unglücklicherweise ist das keine Lösung für das Problem mit Saddam.

Ich finde, Chirac vertritt keinerlei politische Position und verhält sich extrem schlecht gegenüber den Ländern Osteuropas, mit einer Überheblichkeit, allen Eigenschaften, die man üblicherweise den Amerikanern vorwirft: ihre Arroganz, ihre Unilateralität etc. Er vertritt das alles gegenüber den jungen Republiken, die gerade die sowjetische Hölle verlassen haben. Das ist schändlich und skandalös.

(DERSTANDARD, Printausgabe, 27.2.2003)