Nach einer durchzechten Nacht mit seinen engsten Mitarbeitern aus dem Politbüro erlitt Stalin am 2. März 1953 einen Schlaganfall, drei Tage später starb der "größte Verbrecher in der Geschichte" - so der montenegrinische Rebell Milovan Djilas, der den Mann, der 30 Jahre den Sowjetkommunismus prägte, dreimal in kleinem Kreis getroffen hat. Zugleich war der Massenmörder aus Georgien aber auch der erfolgreichste Staatsmann im 20. Jahrhundert, Schöpfer und Symbol des Sowjetreiches und im Zweiten Weltkrieg geschätzter und unverzichtbarer Verbündeter des Westens gegen Hitler-Deutschland. Was ist aber heute, 50 Jahre nach seinem Tod, der Sinn der Erinnerung an Stalin?

Die von den Herren Lenin und Stalin geprägte Ideologie, die letzte, undiskutierbare Wahrheiten bot und die Erlösung der Menschheit schlechthin versprach, war die einzige Legitimationsbasis der KP-Diktatur. Dem "Stalinismus ohne Stalin", der von Gewalt und Lüge geprägten Diktatur in verschiedenen nationalen Farben, wurde erst 36 Jahre später im Schicksalsjahr 1989 der Garaus gemacht. Die Folgen des von Stalin geprägten Systems und der Gesellschaft sind noch im heutigen Russland vielfach spürbar, von der Allmacht der Geheimdienste bis zur heimlichen Zensur der wichtigsten Medien.

Die Worte Isaiah Berlins, des großen britischen Denkers, gelten auch heute für das Russland Putins: "Es gibt Augenblicke in der Geschichte, in denen Individuen oder Gruppen den Gang der Dinge frei verändern können."

Während sich bisher Putins Kurs eher als eine Chance denn als eine Drohung entpuppt hat, liefern nicht nur die ehemaligen asiatischen Sowjetrepubliken, sondern vor allem der Irak und Nordkorea eindrucksvolle Beweise dafür, wie wichtig die Rolle der Persönlichkeit ist. Trotz aller Unterschiede konnten Saddam Hussein und Kim Jong-il, der "geliebte Führer" Nordkoreas, nur durch die skrupellose Anwendung von Folter und Gewalt, durch periodische Säuberungswellen ihre Machtstellung ausbauen und absichern. Angst und Todesfurcht sind die Mittel ihrer Herrschaftssicherung.

Es ist auch nützlich, an die auf agitatorische Schlagworte reduzierte Sprache des Stalinismus zu erinnern. Die Proteste gegen den amerikanischen Imperialismus und seine "Kettenhunde" waren "flammend" und die Treue zur Partei bzw. zum Führer "unbeirrbar". Die Aufmärsche in Bagdad und in Pjöngjang und die sorgfältig einstudierten Interviews mit den wenigen zugelassenen westlichen Fernsehreportern und Journalisten rufen die "kontrollierte Schizophrenie" der Stalin-Zeit in Erinnerung.

Eine ungeheure Wirkung hatten damals jene westlichen Zeitzeugen ausgeübt, die von der Persönlichkeit Stalins oder von der Sowjetunion als Gegengewicht zum Nationalsozialismus geblendet waren.

Der pathetische Auftritt des greisen Labour-Politikers Tony Benn bei Saddam erinnerte an seinen Parteigenossen Harold Lasky, der 1935 "kaum einen Unterschied zwischen dem allgemeinen Charakter eines Prozesses in Russland und in unserem Land" bemerkt hat, oder an Äußerungen des US-Botschafters Davies am Höhepunkt der Schauprozesse: "Stalins braune Augen hatten etwas sehr Gütiges und Mildes. Ein Kind würde gern auf seinem Schoß sitzen, und ein Hund würde sich an ihn schmiegen." Der Schriftsteller Lion Feuchtwanger schrieb über die "grenzenlose Bewunderung" der Sowjetmenschen für Stalin.

Trotz berechtigter Kriegsangst klingen manche Töne fundamentalistischer Friedenskämpfer (siehe Wolf Biermann über "Nationalpazifisten" im letzten Spiegel) wie ein Echo aus einer längst vergessenen Zeit. Stalins Schatten ist noch nicht verschwunden. (DER STANDARD, Printausgabe, 27.2.2003)