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+++ PRO
Ljubia Tosic
Ein eher grässliches Wort für eine der schönsten Seelensachen der Welt - als müsste man zum Doktor, um sich was wegoperieren zu lassen! Und das Tier, nach dem unser Phänomen benannt wurde, kann auch nicht als Quelle angenehmster Assoziationen bezeichnet werden. Pfui! Vergessen wir das. Der Begriff Ohrwurm bezeichnet ja eine sympathische Variante des Verliebtseins, ausgelöst durch ein paar Takte magisch zusammengestellter, rhythmisch geordneter Noten, denen wirkungssteigernde Harmonien unterlegt wurden. Der Vorgang ist nur armen Musikresistenten unbekannt. Man begegnet dem Noten-Objekt und kann sich nicht mehr wehren. Das Ohr kreist nur noch um die paar Takte, der Verliebte strahlt, summt, die Geliebte trägt ihn durch den Alltag, und alles fällt ein bisschen leichter. Schwere Fälle gehen mitunter nicht mehr aus dem Haus, verbringen ganze Abende damit, die Geliebte unentwegt zu belauschen.
Das ist ein bisschen asozial, macht einen etwas weltfern, lässt aber nach und kann in Ekel übergehen. Ein guter Schutzmechanismus. Aber für die kurze Spanne der akustischen Abhängigkeit von der Melodie der Begierde ist der innere Friede gewährleistet, das hat die Evolution gut eingerichtet, - gewisse Aspekte der Pubertät werden etwa dadurch erst erträglich. Es gibt natürlich auch die lästige Variante, die Melodie, die man als unwürdig erachtet, die einem allerdings dennoch nicht in Ruhe lässt. Dafür müsste es in der Tat einen Doktor geben. Es würde aber auch reichen, wenn manche Herrschaften aufhörten zu komponieren.
---CONTRA
Gerhard Plott
Viel Furchtbares hat der einfache Österreicher auf seinem kurzen Lebensweg durchzustehen, wobei drohender Arbeitsplatzverlust, Sondierungsgespräche und Karl-Heinz Grasser überraschenderweise nicht an erster Stelle rangieren. Der wahre Schrecken tarnt sich nämlich und legt sich eine biedere Erscheinungsform zu: der Ohrwurm. Wir reden hier allerdings nicht von diesem lieben Insektenviecherl aus der Familie der Dermaptera, wir reden von nervenzerfetzenden akustischen Attacken, denen man im Alltag ausgesetzt ist und die durchaus die durchschlagende Wirkung einer Gehirnwäsche erzielen können.
Wie wäre es sonst zu erklären, dass es tatsächlich Menschen gibt, die stundenlang die gleiche Tonfolge wiederholen, ohne dazu mit vorgehaltener Waffe gezwungen zu werden. Wobei es völlig egal ist, von wem die Melodie ursprünglich stammt. Auch die schönste Mozart-Arie erfüllt nachweislich den Tatbestand der Folter, wenn sie mehrmals hintereinander gepfiffen wird, ist aber natürlich ein Lercherl gemessen an den wirklich schweren Kalibern wie aus der Hitparade der volkstümlichen Musik. Wurde man von Würmern dieser Kategorie zerebral penetriert, bleibt oft nur die nackte Verzweiflung.
Doch geben Sie im Fall einer Durchwurmung nicht einfach auf, wehren Sie sich, kämpfen Sie. Denken Sie an etwas völlig Verrücktes, an Gusenbauer mit Perücke beispielsweise, das lenkt ab. Außer Karl-Heinz Grasser gibt eine CD mit seinen größten Hits heraus. Dann ist alles zu spät. (DER STANDARD/rondo/07/03/2003)