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Wilhelm II. auf einem Foto aus dem Jahr 1911

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Berlin/London/Wien - Vor 100 Jahren, Ende Oktober 1908, veröffentlichte die britische Zeitung "Daily Telegraph" ein Interview mit Kaiser Wilhelm II., der sich darin mit ungeschickten und taktlosen politischen Formulierungen über die deutsch-britischen Beziehungen äußerte. Das Interview löste einen Sturm der Entrüstung in Großbritannien aus, ebenso im Deutschen Reich, wo es fast zu einer Verfassungskrise um die Person und die Rechte des Kaisers kam.

Wilhelm, der auch sonst keine glückliche Hand in der Politik hatte, war zwar vom guten Willen beseelt, mit dem Interview die damals stark getrübten Beziehungen zwischen Berlin und London zu verbessern, allein er erreichte genau das Gegenteil, auch weil die politische Prüfung des Interviews von deutscher Seite unzureichend war.

Das brisante deutsch-britische Verhältnis

Vor dem Hintergrund der wegen der deutschen Flottenpolitik und des starken britischen Misstrauens belasteten bilateralen Beziehungen griff Wilhelm II. die Anregung eines britischen Freundes, Oberst Stuart-Wortley auf, in einer britischen Zeitung in Form eines Interviews zum deutsch-britischen Verhältnis Stellung zu nehmen. Stuart-Wortley traf den Kaiser im September 1908 und setzte ein Interview nach Äußerungen des Kaisers auf, das mit einem Journalisten der "Daily News", Harold Spender, überarbeitet wurde. Wilhelm, Enkel der britischen Königin Victoria, äußerte sich positiv über das Werk, das ihm am 28. September übermittelt worden war und bezeichnete es als getreue Wiedergabe seiner Gedanken.

In dem Interview kritisierte der Kaiser britisches Misstrauen und Zweifel an seinem aufrichtigen Friedenswillen und seinen Wunsch, gute Beziehungen mit Großbritannien zu unterhalten. Zum damals akuten Marokko-Problem meinte der Herrscher, die von den übrigen Mächten als voreilig empfundene Rücksendung des deutschen Konsuls von Tanger nach Fez und die ebenfalls als voreilig empfundene Anerkennung von Moulay Hafiz nach der Absetzung seines Halbbruders Abdelaziz als marokkanischer Sultan widerspreche keinesfalls seinen Friedensbemühungen.

Ausführlich ging Wilhelm II. auf den Burenkrieg ein und widersprach der britischen Ansicht, dass Deutschland im Krieg in Südafrika eine feindselige Haltung gegenüber London eingenommen habe. Er behauptete sogar, den Burenkrieg "strategisch gewinnen geholfen" zu haben. Abschließend verteidigte der Kaiser Deutschlands Bedürfnis nach einer starken Flotte als junge, emporsteigende Weltmacht mit sich ausweitenden Handelsbeziehungen und Interessen, die auf allen Weltmeeren verteidigt werden müssten. Nur Mächte mit starken Flotten würden sich Respekt verschaffen können, wenn die Zukunft im Pazifik entschieden werde.

Ein Text geht auf die Reise

Wilhelm II. schickte den englischen Interviewtext durch Botschafter Jenisch an den zu einem Urlaub in Norderney weilenden Reichskanzler Bernhard Fürst Bülow mit der Bitte, wünschenswerte Abänderungen am Rand des vorliegenden englischen Textes zu vermerken. Bülow schrieb "Vertraulich" und "Sorgfältig prüfen" auf das Schriftstück und schickte es nach Berlin. Dort öffnete es Unterstaatssekretär Stemrich und gab es - wie von ihm verlangt - ungelesen an Geheimrat Klehmet weiter. Diesem kamen nach dem Durchlesen einige Zweifel über die Ratsamkeit einer Veröffentlichung, er korrigierte einige Fehler und schlug einige stilistische Änderungen vor. Stemrich erhielt den Text zurück, signierte ihn ungelesen und sandte ihn nach Norderney zurück.

Bülow überflog dort den Text flüchtig, versah Klehmets Korrekturen mit der Bemerkung "Änderungen, die mir wünschenswert erscheinen", signierte ihn, worauf er nach Berlin zurückging. Dort schrieb Stemrich "Dringend" darauf, worauf der Text nochmals an Bülow zurückging. Mit der Bemerkung, er habe ihn schon gelesen, ging der Text an Botschafter Jenisch weiter, der ihn dem Kaiser übergab. Wilehlm II. sandte den Wortlaut an Stuart-Wortley weiter, dieser der Redaktion des "Daily Telegraph", der das Interview am 28. Oktober 1908 veröffentlichte.

Entrüstete Reaktionen

Die Katastrophe war da: ein Sturm der Entrüstung in Großbritannien. Besonderen Anstoß nahm man dort an Wilhelms Bemerkung, er gehöre einer Minderheit in seinem Land an, die freundschaftliche Gefühle für Großbritannien empfinde, so wie dort eine Minderheit der guten Elemente für eine Freundschaft mit dem Deutschen Reich eintrete. Übel genommen wurde auch Wilhelms Bemerkung, er habe den Burenkrieg strategisch gewinnen geholfen. Auch in Japan war man verstimmt über Wilhelms Ansichten zu Flottenplänen für den Pazifik.

Das Interview führte dazu, dass - am Vorabend des Ersten Weltkrieges - die deutsch-britischen Beziehungen einen Tiefpunkt erreichten. In London hatte man noch nicht vergessen, dass der Kaiser ein Glückwunschtelegramm an Buren-Präsident Ohm Krüger zu den Erfolgen der Buren gegen die Engländer gerichtet hatte. Empörung herrschte britischerseits noch immer über Wilhelms Besuch in Tanger 1905 (als Protest gegen die Teilungspläne Großbritanniens und Frankreichs in Nordafrika) und über die Flottenvorlage, die 1906 im deutschen Reichstag eingebracht worden war.

Ungeliebte Verwandtschaft

Dies hatte London zu Verhandlung mit Russland bewogen, womit die Triple-Entente gegründet worden war. Dazu kam die tiefe persönliche Abneigung, die König Eduard VII. gegenüber seinem Neffen Wilhelm II. empfand (Wilhelms Mutter Viktoria war Eduards Schwester, die älteste Tochter von Queen Victoria; Anm.) Wiederholt hatte der König die "politischen Bocksprünge" des Kaisers kritisiert.

In Deutschland verteidigte Reichskanzler Bülow vor dem aufgebrachten Reichstag den Kaiser in unzureichender Weise. Wilhelm II. war in seiner Selbstsicherheit getroffen, sagte zwar in einer öffentlichen Erklärung für die Zukunft politische Zurückhaltung zu, fühlte sich aber von Bülow im Stich gelassen. Dessen Entlassung war so nur mehr eine Frage der Zeit, sie erfolgte 1909, allerdings als Folge des Scheiterns einer Reichsfinanzreform. Verfassungspolitische Folgen wurden im Deutschen Reich aus der Daily Telegraph-Affäre nicht gezogen.

--> Auszüge aus dem Interview

Auszüge aus dem Interview mit Wilhelm II.

"Ihr Engländer seid Toren, Toren und nochmals Toren. Was ist nur in euch gefahren, dass ihr so restlos Verdächtigungen Glauben schenkt, die einer großen Nation unwürdig sind ? Was kann ich mehr tun, als ich getan habe? Ich habe in meiner Rede in Guildhall (anlässlich eines offiziellen Besuches in London 1907; Anm. ) mit allem Nachdruck erklärt, dass mein Herz für den Frieden schlägt und dass einer meiner aufrichtigsten Wünsche ist, mit England in guten Beziehungen zu leben. ..... Meine Taten sollten dafür sprechen, aber ihr beachtet sie nicht, sondern glaubt nur denen, die sie falsch auslegen und verdrehen. Ich empfinde das als eine persönliche Kränkung ....."

"Ich bin ein Freund Englands, aber ihr macht es mir schwer"

"Ich wiederhole, ich bin ein Freund Englands, aber ihr macht es mir schwer. ..... Ein großer Teil der mittleren und unteren Schichten meines Volkes hegt keine freundlichen Gefühle für England. Ich gehöre darum gewissermaßen einer Minderheit in meinem eigenen Lande an, einer Minderheit der besten Elemente allerdings, genau wie in England eine Minderheit der guten Elemente für eine Freundschaft mit Deutschland eintritt. Aber darum nehme ich euch die Zurückweisung meines Wortes, dass ich ein Freund Englands bin, besonders übel. ......"

" ..... In England wird allgemein geglaubt, dass Deutschland im südafrikanischen Krieg eine feindselige Haltung gegenüber England eingenommen hätte. Die öffentliche Meinung in Deutschland war zweifellos feindselig gesinnt, sogar erbittert feindselig. Aber wie verhielt sich das offizielle Deutschland ? Meine Kritiker sollen sich selber die Frage vorlegen, durch wen die europäische Reise der Burendelegation plötzlich ein Ende fand und scheiterte. Holland feierte die Buren stürmisch, Frankreich begrüßte sie begeistert. Sie wollten nach Berlin kommen, und die deutsche Bevölkerung hätte sie mit Blumen überschüttet. Aber ich lehnte es ab, sie zu empfangen. ....."

"Eine berechtigte Forderung aller patriotischen Deutschen"

".....Die Engländer, die mich jetzt beleidigen, indem sie mein Wort anzweifeln, sollten meine Taten in den Stunden ihres Unglücks kennen. ..... Ich befahl einem meiner Offiziere, so genau wie möglich die Stärke und Gruppierung der Truppen festzustellen, die gegenwärtig in Südafrika auf beiden Seiten kämpften. Auf Grund dieser Unterlagen arbeitete ich einen Plan für den Feldzug aus, der mir nach den Umständen den meisten Erfolg versprach. Ich ließ ihn durch meinen Generalstab prüfen und sandte ihn nach England ..... Und lassen Sie mich nicht als Verdienst, sondern als seltsames Zusammentreffen hinzuzfügen: der Plan, den ich ausgearbeitet hatte, bewegte sich zum größten Teil auf der gleichen Linie wie der Plan, den Lord Roberts dann zum Erfolg führte. War das, frage ich, die Handlungsweise eines Mannes, der Englands Schwäche wünscht ? ....."

" ..... Deutschland ist eine junge, emporsteigende Weltmacht. Es treibt einen weltweiten Handel, der sich ständig vergrößert und keine Beschränkungen duldet - das ist eine berechtigte Forderung aller patriotischen Deutschen. Deutschland braucht darum eine starke Flotte, die seinen Handel schützt und seine mannigfaltigen Interessen in Übersee vertritt. .....Deutschland blickt in die Zukunft, sein Horizont ist weit gespannt. Es muß für Eventualfälle im Fernen Osten gerüstet sein. Nehmen Sie den Aufstieg Japans; denken Sie an die Möglichkeit einer nationalen Wiedergeburt Chinas und bedenken Sie dann die ungeheuren Probleme, die der Pazifik schon heute aufgibt. ..... England sollte vielmehr froh sein, dass Deutschland eine Flotte besitzt, wenn beide in den großen Auseinandersetzungen der Zukunft, wie wir hoffen, zusammenstehen werden." (APA)