Wien - Kann man Slowake, Ungar und Europäer zur selben Zeit sein? Oder hat die gefallene Berliner Mauer ideologische Loyalitäten und traditionelle Wertesysteme gleichermaßen unter sich begraben? Diese Frage stand am Anfang der Studie "Multiple Identities in Europe" , die vom Ludwig-Boltzmann-Institut für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit in Kooperation mit der Erste Stiftung jüngst in Wien präsentiert wurde.
Was sie voneinander unterscheidet, ist eigentlich nur ein Buchstabe, der im Laufe der Zeit durch politische Umbrüche an einer anderen Stelle gelandet ist. Ähnlich verhält es sich auch mit den Einwohnern dieser Stadt: Obwohl sie auf den ersten Blick so viel gemein haben, scheint es dennoch etwas zu geben, das zwischen ihnen steht. Komárom und Komárno: Das sind zwei Bezeichnungen für ein und dieselbe Stadt an der Donau.
Zentrum der Minderheit
Zumindest war sie das bis 1918. Nach dem Ersten Weltkrieg verlor Ungarn weite Gebiete an die neu entstandene Tschechoslowakei - so auch das Stadtzentrum von Komárom nördlich der Donau. Heute ist das auf der slowakischen Seite liegende Komárno beinahe doppelt so groß wie seine ungarische Schwesterstadt Komárom jenseits der Donau und gilt als Zentrum der ungarischen Minderheit in der Slowakei.
Als Teilprojekt einer umfangreichen Studie mit insgesamt zehn Fallstudien in europäischen Grenzgemeinden wollten Muriel Blaive und Barnabas Vajda herausfinden, was die jeweilige Seite über die andere denkt und welche Spuren der Kalte Krieg in den Erinnerungskulturen hinterlassen hat. Interviews brachten zutage, dass sich die ungarische Minderheit in Komárno den Ungarn jenseits der slowakischen Grenze mehr verbunden fühlt als den Slowaken derselben Stadt. "Die Personen kennen einander, nur mögen sie sich nicht", so Blaive.
Die realen Grenzen sind zwar gefallen, in den Köpfen der Menschen existieren sie aber weiter. Zum Teil sei sogar der Eindruck entstanden, die Einwohner würden sich nach der Grenze zurücksehnen, sagt die Forscherin. Selbst das Modell einer europäischen Identität habe für die Menschen keinen ideellen Wert, sondern beschränke sich meist auf die Hoffnung auf höheren Lebensstandard. Auf die Frage, was die ungarische Minderheit in Komárno von den Ungarn jenseits der Grenze unterscheide, antworteten viele Ungarn, dass die Minderheit "ungarischer" sei als sie selbst. Und das obwohl oder gerade weil sie offiziell anerkannter Teil des Nachbarstaates ist. Die Bewohner der geteilten Stadt stünden einander, so Vajda, trotz ihrer geschichtlichen Verbundenheit mehrheitlich mit negativen Ressentiments gegenüber.
Erstaunlich ist zudem, dass die Erinnerung an 1989 im Bewusstsein der Menschen einen weit geringeren Stellenwert einnimmt als angenommen. "1989 war wie ein Schweinsbraten" , so ein Befragter. "Nach einer kurzen Freude blieb nur der leere Teller zurück." Einschneidender als die Wende war demnach das Jahr 1918. Viele Ungarn hätten den Gebietsverlust bis heute nicht verkraftet.
Geht es nach der kroatischen Autorin Slavenka Drakulić, die sich aus dem Publikum meldete, so ist vor allem die starre und einseitige Definition von Identität dafür verantwortlich, dass eine Annäherung trotz Wegfalls der realen Grenzen so schwer fällt. Nur wenn es gelinge, Identitäten jenseits des Nationalstaates zu denken, könnten tiefsitzende Ressentiments überwunden werden. Denn im Gegensatz zur Augenfarbe, die angeboren ist, könnten Identitäten erworben, gewechselt und bewusst gebildet werden, so Drakulić. Wie das Beispiel der geteilten Stadt zeigt, scheitert diese Wunschvorstellung jedoch meist an der Realität, meinten die Referenten: Wenn der "Identitätsmarkt" nur wenig anbietet, muss man sich mit dem begnügen, was es gibt.
Kontinuitäten und Brüche
Doch welche Faktoren sind es nun, die unsere Identität ausmachen und zu einem der "komplexesten Modelle des 21. Jahrhunderts" machen, wie der Historiker Oliver Rathkolb als früherer Wissenschaftsdirektor des Boltzmann-Instituts bemerkte? Neben der ideologischen Trennlinie zwischen Ost und West wirken sich laut Berthold Molden besonders Staats-, Religions- und Gruppenzugehörigkeit auf die Formung von Selbst- und Fremdbildern aus. Identitätsbrüche verlaufen jedoch auch zwischen Generationen, Geschlechtern und sozialen Klassen, so der Wissenschafter. (Marion Gollner/DER STANDARD, Printausgabe, 21.10.2008)