Wien - Der Terror des kommunistischen Herrschers Josef Stalin traf nicht nur Bürger der Sowjetunion. Auch Hunderte Österreicher fielen Stalin zum Opfer. Während der großen sowjetischen Säuberung (Tschistka) 1934 bis 1939 wurden Österreicher vom sowjetischen Geheimdienst NKWD verhört. Diese Verhöre folgten einem Schema: "Wir verfügen über Angaben, dass Sie Agent der österreichischen Geheimpolizei sind. Wer hat Sie angeworben?" Mit Folterungen, Schlägen, Schlafentzug zwang der NKWD Menschen zu Geständnissen. Die geständigen "Spione" konnten mit gutem Gewissen erschossen werden.

"Es gibt drei Hauptgruppen österreichischer Opfer", sagte der Stalin-Experte und Historiker am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Barry McLoughlin. Die erste Gruppe - Facharbeiter und Ingenieure - wurde für den Aufbau der sowjetischen Industrie benötigt. Sie ging freiwillig nach Russland. Die zweite Gruppe waren Mitglieder des sozialdemokratischen, paramilitärischen Schutzbunds, die emigrieren mussten. Dritte Gruppe: Österreichische Kommunisten, die große Hoffnungen in das Land des Marxismus-Leninismus gesetzt hatten. "Rund 600 österreichische Opfer waren es zwischen 1930 und 1945", sagte McLoughlin. Das Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschungen in Graz geht von 3000 bis 4000 Opfern aus - allerdings von 1930 bis 1955. Mit eingerechnet in diese Zahl sind auch Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus der russischen Besatzungszone verschleppt worden waren.

Arbeitskräfte

Etwa 4000 österreichische Arbeitskräfte waren nach 1928 in die Sowjetunion gewandert. Die dringend benötigten Facharbeiter und Ingenieure lockte man mit attraktiven Angeboten - attraktiv besonders in Zeiten der hohen Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise in Österreich: "Es hat geheißen, mindestens 50 Prozent des Lohnes würde in Valuta zum Beispiel Dollar ausbezahlt", erzählt McLoughlin. Auch die Familie hätte in die Sowjetunion nachkommen und dort gut leben können. Die Versprechen wurden mehrheitlich nicht eingehalten. Die meisten Auswanderer kehrten daher 1932/33 enttäuscht wieder zurück.

Zu diesem Zeitpunkt waren viele Schutzbund-Kämpfer der Februarrevolution 1934 "von links und von Lenin begeistert", sagte der Historiker. Und sie waren enttäuscht von der Sozialdemokratie, weil diese sich Bundeskanzler Engelbert Dollfuß zu wenig widersetzt hätte. 1933 hatte Dollfuß die kommunistische Partei und auch den Schutzbund verboten. Etwa 700 bis 800 Schutzbündler fuhren über Prag in die Sowjetunion. An die 50 Mitglieder der verbotenen KPÖ schlossen sich ihnen an. Der erste Transport ging Ende April 1934. In Moskau wurden die Schutzbündler "sensationell" empfangen. Mit deutschen Transparenten wurden die Knickerbocker tragenden Helden begrüßt.

Enttäuschungen über das Ende der Privilegien

Die Österreicher begannen in Industriebetrieben in Moskau, Leningrad (heute St. Petersburg), Charkow, Rostow am Don und Gorki zu arbeiten. Anfangs waren sie privilegiert - sie bekamen zwei Jahre lang garantierten Lohn. Danach das übliche leistungsbezogene Einkommen. Es gab Spannungen zwischen den Österreichern und den Russen sowie Enttäuschungen über das Ende der Privilegien und das Leben im sozialistischen Staat. Manche wollten wieder weg, durften aber nicht. Sie waren in der Zwischenzeit aus Österreich ausgebürgert worden. 250 Schutzbündlern gelang es dennoch, nach Österreich zurückzukehren.

Ab 1935 ließ die Kommunistische Partei (KPdSU) Kaderüberprüfungen durchführen. Sie befürchtete, dass mit den Einwanderern auch Gestapo-Spione und andere Feinde mitgefahren waren. Jeder wurde einer Bewertung unterzogen. Wer als "Lump" oder "Spion" galt, wurde verhaftet. 1937 fand eine Tagung des Zentralkomitees in Moskau statt, diese dauerte drei Wochen, "das längste Plenum in der Geschichte", sagte McLoughlin. Dabei stimmten die Politiker überein, dass es überall Verschwörung gegen den Sozialismus gebe. Der Geheimdienst NKWD musste mögliche Verräter ausschalten.

Anti-Kulak-Aktion

Im Sommer 1937 begann die so genannte Anti-Kulak-Aktion. Freilich wurden dabei nicht nur Kulaken (Großbauern im zaristischen Russland) sondern auch Geistliche, Bürgerliche, Oppositionelle, Kriminelle und andere verhaftet, hingerichtet oder in den Gulag (Arbeitslager) geschickt. Die Zahl der Verhaftungen hat das Politbüro, die höchste Instanz im Land, in Quoten festgelegt. Etwa: "Rostow am Don: 500 erschießen, 1000 in den Gulag", erzählt der Historiker. Immer wieder wurde die Quote erhöht. "(Ich bin) dafür": die Antwort von Stalin auf ein derartiges Ansuchen. Eine dreiviertel Million Menschen wurden im Zuge der Aktion verhaftet. Die Hälfte davon wurde erschossen.

"Das hat die Österreicher nicht betroffen, die Anti-Kulak-Aktion richtete sich nur gegen einheimische 'Feinde'", sagte McLoughlin. Österreicher betraf die "Natsoperatsii", die in der zweiten Hälfte 1937 begannen. Diese Aktionen richteten sich gegen Minderheiten im Land, gegen Polen, Letten, Finnen oder Deutsche. Insgesamt waren es 12 Operationen. "Die meisten Österreicher sind der so genannten deutschen Operation zugeschrieben worden." Dabei gab es keine Quoten. "Man konnte verhaften, so viel man wollte." Man hatte im Zuge der "nationalen Operation" 335.000 Menschen inhaftiert; "bei der deutschen Operation 55.000 verhaftet, wovon drei Viertel erschossen wurden". Alle kamen zunächst ins Untersuchungshaft, wurden dort gefoltert bis sie zugaben, dass sie Spione sind. "An die 100 Österreicher wurden erschossen. Nur 20 bis 30 Österreicher haben den Gulag überlebt und sind nach Hause gekommen."

Kaum freigekommen

Nur wenige kamen frei. Manche, weil sie nach dem Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin von der deutschen Gestapo angefordert wurden. Sie kamen entweder ins Konzentrationslager oder wurden von der Wehrmacht eingezogen. Über 100 Schutzbündler, die in Russland waren, meldeten sich freiwillig zum Dienst in den internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg 1936-1939 und entkamen so dem stalinistischen Terror. "Eine dritte Verhaftungswelle war am 22. Juni 1941, dem Tag des deutschen Überfalls." McLoughlin: "Die Russen ließen Ausländer prophylaktisch verhaften." Unter ihnen waren 14 Schutzbündler aus Leningrad, nur einer davon hat überlebt. (APA)