Das breite Becken der Gona- Frau.

Foto: Scott Simpson

Washington - Was die Paläoanthropologie bislang über den Homo erectus wusste, verdanke sich zu einem guten Teil dem Turkana Boy. 1984 hatten Forscher in Kenia das gut erhaltene Skelett eines jungen Mannes gefunden, der vermutlich vor 1,5 Millionen Jahren gelebt hat.

Er war Vertreter jener Vormenschenart, die vor knapp zwei Millionen Jahren in Afrika lebte und sich von dort nach Asien und Europa ausgebreitet haben dürfte. Der vor rund 40.000 Jahren ausgestorbene Homo erectus dürfte auch schon mit einfachen Werkzeugen und dem Feuer hantiert haben.

Die Hüften des Turkana Boys

Aufgrund der schmalen Hüften des Turkana Boys ging die Forschung bislang davon aus, dass frühere Homo-Arten Babys mit sehr kleinen Köpfen geboren haben. Was wiederum bedeuten würde, dass auch die Frühmenschen - so wie wir - eine lange Kindheit hatten, ehe sie physisch voll entwickelt waren.

Diese Hypothese dürfte nun der Fund eines 1,2 Millionen Jahre alten Beckenknochen einer weiblichen Vertreterin von Homo erectus widerlegen. Der in Gona in Äthiopien gefundene Knochen ist nämlich deutlich größer als jener moderner Frauen, wie ein Paläontologenteam um Scott Simpson von der Case Western Reserve University in Cleveland im Wissenschaftsmagazin "Science" (online vorab) berichtet.

"Wir haben berechnet, wie groß der Kopf eines Kindes bei der Geburt hätte sein können", sagte Simpson. Ihr Ergebnis: "Vermutlich waren die Köpfe der Neugeborenen der Gona-Frau und ihrer Artgenossinnen bis zu 30 Prozent größer als bisher angenommen."

Frühere Selbstständigkeit

Die Forscher folgern aus dem Fund vor allem, dass die Babys aufgrund ihrer größeren Köpfe und ihrer vermutlich anderen Statur auch selbstständiger waren.

"Sie kamen natürlich nicht sprechend zur Welt und konnten auch nicht gehen", so Simpson. "Aber wahrscheinlich konnten sie im Gegensatz zu modernen Neugeborenen schon mehr, greifen zum Beispiel oder sitzen."

Entsprechend dürfte sich die lange Kindheitsphase, in der moderne Menschen ohne fremde Hilfe nicht überleben können, wohl erst im späteren Verlauf der Evolution entwickelt haben, wie Ann Gibbons in einem begleitenden Kommentartext ("Science", Bd. 322, S. 1040) ausführt.

Wann sich dieser Wandel vollzogen hat und warum - diese Fragen können nur weitere Forschungen und Fossilfunde beantworten. (Klaus Taschwer/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15./16. 11. 2008)