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Ein Kunstbetrieb, der sich auf einer tautologischen Ästhetik der Selbstverständlichkeit und zugleich auf elitärer Abgehobenheit begründet, bringt nicht wenige eitle Figuren hervor. Darunter sind immer auch einige von so penetranter Aufdringlichkeit, dass ihnen die eigenen Fauxpas nur als Paradeschritte auffallen.

Zöllner heißt ein negatives Prachtexemplar in dem gelungenen neuen Roman von Daniel Kehlmann. Dieser Ich-Erzähler, der ein Buch über einen berühmten, in einem Alpenweiler zurückgezogenen Maler schreiben soll und sich bei baldigem Ableben des alten Meisters eine größere öffentliche Aufmerksamkeit verspricht, trägt denn auch sein Ego im Titel voran: Ich und Kaminski.

Wie andere junge Männer in der Literatur fährt er steil in die Berge hinauf, nicht aber als Lernender, sondern als unangenehme Figur, die sich überall hineindrängt. Der Biograph erhöht den Biographierten, um sich selbst zu erhöhen. Am Schluss landet er allerdings im Flachen, am Meer, wo die Flut seine Spuren und seine Gewissheiten löscht.

In ausgefeilter, knapper Ironie und mit hintergründigem Witz stellt Kehlmann die Unsicherheit von Lebens-Erzählungen und Identitäts-Bildern dar, schildert er einen aktuellen Möchtegern-Boswell. Ein Zitat des englischen Aufdringlings liefert dem Roman das Motto: "Ich bin in der Tat ein einzigartiges Wesen. Werde ich nicht überall gut aufgenommen?", notierte Boswell, seine "bemerkenswerte Menschenkenntnis" betonend, 1764 in sein Journal - nachdem ihn Voltaire hinausgeschmissen hatte.

Der von Matisse und Picasso geschätzte Kaminski hatte seinerzeit durch die Bilderserie "Reflexionen", in der ein System von Spiegelungen "grausilberne Gänge in die Unendlichkeit" öffnet, Berühmtheit erlangt, und durch seinen Beitrag zu einer New Yorker Pop-Art-Ausstellung, "Die Befragung des heiligen Thomas" mit dem Zusatz "painted by a blind man". Des blinden Malers Erfolgsgeschichte mit ihren geheimnisvollen blinden Flecken enthält somit im Kern, fein angespielt, die Fragen, die vielfältig den Roman durchziehen: Was ist wahr, was ist sichtbar, was ist abbildbar? "Wir haben völlig falsche Bilder von uns", sagt Kaminski. Entsprechend ist er an seinen Selbstporträts gescheitert, die unvollendet im Keller-Atelier verstauben, wie Zöllner feststellt, als er heimlich des Malers Haus durchwühlt - zuvor hatten ihn Kaminskis Vertraute, vor allem dessen Tochter Miriam, abgefangen. Die biographischen Bemühungen fördern scheinbar allerlei Tiefen zutage, sie lassen die Figuren in eine Reflexion (im Doppelsinn) eintreten.

Für den Biographen und auch für den Maler endet die Reise ins Flachland und in die Vergangenheit enttäuschend. Während sie Illusionen verlieren, werden zugleich die Täuschungen des Kunstbetriebes ersichtlich. Etwa in den witzigen und pointierten Szenen einer Vernissage, zu der Kaminski von Zöllner geschleppt wird; dort erkennt man ihn langsam. Er sei ein "Klassiker", wie Brancusi oder Duchamp. Worauf die Fernsehredakteurin ihren unbeleckten Fragen die Krone aufsetzt: "Ist Duchamp auch hier?" Solche Herrschaften beanspruchen ästhetische Hoheit. Und es ist bezeichnend, dass der selbstverliebt kunstsinnige Zöllner ein einziges Mal seinen Gefallen ausdrückt, und zwar ausgerechnet und insgeheim an einem alpinen Kitschbild in der Bergpension "Schönblick". Ähnlich spielt ein Ölgemälde von einem Sonnenuntergang, "unter dem ein schelmischer Hase über ein Blumenbeet hoppelte", eine hintergründige Rolle bei Kaminskis Ent-Täuschung im Hause seiner angeblich so bedeutsamen Jugendliebe (die sich nun nicht einmal genau seines Vornamens erinnert).

Ein kurzer Satz kann Posen aufreißen. Kaminski sei "die Quelle schlechthin", meint Zöllner zu Miriam, und der Maler wiederholt: "Ich bin die Quelle schlechthin." Seine Bilder, setzt Zöllner fort, hätten die Art verändert, "wie ich die Dinge sehe". Darauf Kaminski: "Aber das stimmt doch nicht." Natürlich stimme das nicht, sagt der Biograph zu sich, jedoch habe er noch nie einen Künstler getroffen, "der diesen Satz nicht glaubte".

Kehlmann weiß treffende Dialoge zu schaffen und packend, konzentriert zu erzählen. Seine narrative Feinfühligkeit bettet die überraschenden Wendungen und die in der Schwebe gehaltenen Situationen in einen unaufdringlichen Duktus, der des Biographen Aufdringlichkeiten kontert. In der adäquaten literarischen Struktur sind das Spiegelmotiv und Gegensatzpaare (oben - unten, hineindrängen - herausfallen, Aufstieg - Abstieg) bestimmend, ohne überdeutlich zu werden. Die Kunstwerke hingegen finden sich nicht nur in ihrer Bedeutung behauptet, sondern tatsächlich anschaulich geschildert.

Max Frischs Gantenbein kann, sich blind stellend, auch die landläufige Eitelkeiten erkennen. Daniel Kehlmann nun lässt ein Spiegelbild erzählen, einen vom Ego geblendeten Betriebskasper, den der - scheinbar oder anscheinend? - blinde Maler von seinen falschen Höhenflügen herunterholt.

(Von Klaus Zeyringer/DER STANDARD, Printausgabe, 01.03.2003)