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Freudianer unter dem NS-Regime - auch nach Sigmund Freuds Vertreibung aus Österreich.

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Wien - Das Leben in einem totalitären Staat kennt auch einen normalen Alltag. Wer nicht gezielt verfolgt wird, geht einkaufen, auf Feste, ins Kino - oder in die Psychoanalyse. Warum auch nicht?

Darum nicht, sagen gesellschaftskritische Vertreter der Therapie: weil man unter repressivsten Bedingungen keine Heilung erwarten kann, keine Anpassung wünschen soll. Es gehe doch und sogar mit Erfolg, erwidern Praktiker, die Menschen bei Schwierigkeiten egal in welchem System helfen wollen, sich selbst zu erkennen.

Beide Positionen seien zu hinterfragen, sagt der in Wien lehrende Historiker Mitchell Ash. Er hatte Vertreter seiner Wissenschaft sowie praktizierende und forschende Analytiker zu einer Tagung am vergangenen Wochenende nach Wien geladen, auf der das Thema "Psychoanalyse in totalitären und autoritären Regimes" behandelt wurde.

Den "tiefen Hintergrund" der internationalen Begegnung bildet für Ash die Tatsache, dass Formen tiefenpsychologischer Behandlung auch in den unwirtlichsten Ländern weitergeführt wurden. Zwar ist die offensichtlichste Zäsur, die Vertreibung der Familie Sigmund Freuds und des jüdischen Teils seiner Mitarbeiter aus dem angeschlossenen Österreich beziehungsweise aus Deutschland, mittlerweile gut erforscht. Doch dass es danach, teils in angepasster Form, von "anstößigen" und rassisch nicht genehmen Elementen bereinigt, teils geheim, im Widerstand, ein Festhalten an freudianischem Gedankengut gab, war lange Zeit viel weniger bekannt.

Eine neue Offenheit der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung wie auch der Zeitgeschichtler, so Ash, ermöglichte die genauere Rekonstruktion dieser Entwicklungen.

Der Zukunftsfonds der Republik fördert das Projekt, das zu einem mehrbändigen Resultat führen soll. Die Tagung erbrachte erste Informationen und Einsichten.

Bis in den Sommer 1944

Der Analytiker und Pädagoge August Aichhorn war den Verfechtern antiautoritärer Erziehung in den Sechzigerjahren ein Leitstern. Heutige Forscher - unter ihnen sein Enkel Thomas Aichhorn - heben die weitere Bedeutung hervor, die er als in Wien Verbliebener hatte: Bis in den Sommer 1944 praktizierte er unauffällig weiter, nach dem Krieg personifizierte er, durch Anna Freud unterstützt, die Kontinuität der Arbeit an der Geburtsstätte der Analyse und begründete die Vereinigung neu.

Dass sich in dem seinerzeitigen Forum auch dem NS-Regime Nahestehende wiederfanden, wurde erst später problematisiert - ob ausreichend oder nicht, das war sogar in der Tagung noch heftig umstritten: Man hatte den Eindruck, dass sich dabei fast schulbuchhaft jene Prozesse abspielten, die in der Freud'schen Lehre (siehe Widerstand, Verdrängung, Vatermord) postuliert werden.

Wien war nicht alles: Mehrere Vorträge lenkten die Aufmerksamkeit auf die therapeutische Arbeit in unterschiedlich repressiven Regimes wie Italien unter dem Faschismus, Russland unter und nach den Sowjets, dem militärisch regierten Brasilien und Norwegen unter Quisling. Abschließend kam die Geschichte der Analyse im Nachkriegsdeutschland zur Sprache. Aus dem Material wollen die Projektmitarbeiter zur internationalen Diskussion beitragen. Erinnerungsarbeit in jederlei Hinsicht liegt vor ihnen. (Michael Freund/DER STANDARD, Printausgabe, 2. 12. 2008)