Erst wenn diese Struktur und die damit verbundene Personalrekrutierung verändert wird, erhielte die Partei wieder Konturen.

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Gerade angesichts der Wirtschaftskrise ist die programmatische Basis der ÖVP aktueller denn je. Ihre vorgestrige Struktur und die durch diese bedingte Personalrekrutierung verhindern aber, dass diese in der Tagespolitik visionär umgesetzt und für die Wählerinnen und Wähler transparent wird.

Am Bundesparteitag letzten Freitag kündigte Josef Pröll an, die ÖVP programmatisch "neu aufstellen" zu wollen. An der Struktur sieht er hingegen keinen Änderungsbedarf - im Gegenteil: Die Personalbestellungen der letzten Tage deuten eher auf eine Renaissance bündischen Denkens hin ("Auf diese Funktion hat der ÖAAB Anspruch"). Ja, noch mehr: Die Bünde werden von alten wie "neuen" Spitzenrepräsentanten gebetsmühlenartig als "großer Vorteil" der Partei beschworen. Vorteil wobei eigentlich?

Was sollte anlässlich eines programmatischen Relaunchs am Selbstverständnis der Partei - als christdemokratische Partei, als Partei des liberalen Rechtsstaats und der offenen Gesellschaft, als Partei der ökosozialen Marktwirtschaft, als Österreichpartei in Europa oder als Volkspartei - über Bord geworfen werden? Zeigen nicht das Platzen der turbokapitalistischen Spekulationsblasen und die darauf folgenden konventionellen linken Reflexe - die Beschwörung des allgegenwärtigen, bevormundenden Staates -, dass es gerade heute einer Politik bedarf, die Maß am Menschen und seinen individuellen Bedürfnissen wie Fähigkeiten nimmt, die den Freiheitsbegriff an Verantwortung bindet, die der Marktwirtschaft einen sozialen und ökologischen Ordnungsrahmen verpasst, die den Menschen Leistung ermöglicht, ihnen aber dort unter die Arme greift, wo sie sich selbst nicht mehr helfen können (Subsidiarität)?

Oder meinte der neue Bundesparteiobmann Defizite in der Umsetzung, in der Erkennbarkeit der Programmatik im politischen Alltag? Tatsächlich ist es ein Problem der ÖVP, dass sie - nicht zuletzt "dank" ihrer strukturellen Hemmnisse - oft nicht den Mut hat, diese christdemokratischen Prinzipien konsequent umzusetzen. Riskiert sie es denn, für eine effiziente kundenorientierte Staats- und Verwaltungsreform, für eine konsequente Umsetzung der ökosozialen Marktwirtschaft etwa im Finanzsektor, für die nachhaltige Integration älterer und behinderter Menschen in die Gesellschaft oder für die Stärkung der Rolle der Patienten im Moloch Gesundheitssystem einzutreten?

Das diffuse Bedürfnis nach "Neuem" in der Politik, wie es sich im Ergebnis der letzten Nationalratswahl manifestiert hat, hängt nicht zuletzt mit dem geringen visionären Potenzial der Politik zusammen. Quer durch alle Parteien ist ein Mangel an zielgerichteter Vordenkarbeit zu konstatieren, obwohl eine Reihe gesellschaftlicher Entwicklungen gerade diese erforderten. Die politische Arbeit in den Klubs ist auf die Tagespolitik konzentriert; die Parteizentralen fungieren hauptsächlich als Organisations- und Marketingapparate.

Visionäre Defizite

Woran es mangelt, sind Orte, an denen intellektuelle Begegnung stattfindet und wertbasierte Visionen über den pragmatischen Alltag hinaus entwickelt werden können. Diskussionen und Ansätze der Vordenkarbeit im strukturellen Korsett der ÖVP wie beispielsweise der "Perspektivenprozess" haben leider gezeigt, wie wenig Chance die dort entwickelten Visionen haben, wenn sie das standes- und interessenpolitische Blickfeld zu überwinden versuchen. Fundamentale Fragen wie jene der (gesellschafts- und wirtschafts- bzw. bildungs- und kultur-)politischen Ziele werden ausgeklammert.

Das von der Parteiführung erkannte inhaltlich-visionäre Defizit der Volkspartei wurzelt in ihrer Struktur und der damit verbundenen "Eliten"-Auswahl ihrer Kandidatinnen und Kandidaten. Personen müssen Inhalte transportieren. Oft standespolitisch fixierte Beamte, die letzten Greißler und Bauern reichen dafür sicher nicht aus!

Wie viele Stimmen muss die Partei noch verlieren, bis sie erkennt, dass ihre archaische ständestaatliche Struktur der Hauptverursacher ihrer Konturlosigkeit ist? Schon lange entspricht das seit 1945 bestehende und auf die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse abgestellte Organisationsprinzip der ÖVP nicht mehr der Realität. Nicht selten sind es Vertreterinnen und Vertreter jeweiliger Lobbys aus Bauern- und Beamtenschaft bzw. Gewerbe, die weniger auf einer Bewahrung von programmatischen Werten als auf einer Beharrung auf Strukturen bestehen. (Der Anspruch etwa des Bauernbunds, den "gesamten ländlichen Raum zu vertreten", ist geradezu bizarr.) Die in diesem Rahmen tradierte Parteiarbeit begünstigt jene, die viel Zeit haben (der Politikwissenschafter Warnfried Dettling spricht vom "Zeitadel" einer Partei) und dadurch überdurchschnittlichen Einfluss ausüben, den sie auch weiter behalten wollen.

Neue Bevölkerungsgruppen

Wer aus dieser "Ochsentour" hervorgeht, ist oft zum "Ochs" ohne eigene Meinung geworden. Durch diese herkömmliche Organisationsstruktur werden andererseits gerade jene Bevölkerungsgruppen nicht erfasst, die die ÖVP ansprechen muss, um mehrheitsfähig zu werden: freiberuflich Tätige, Kulturschaffende, höhere und mittlere Angestellte im Dienstleistungssektor, Studierende oder "aufgestiegene" Vertreter der sogenannten "Zweiten Generation".

Die momentanen ÖVP-Teilorganisationen ("Bünde") müssten - nach dem Vorbild der CDU und anderer Schwesterparteien - zu Rahmenorganisationen unter vielen werden. Die Gremien der ÖVP würden somit nicht länger aus Vertreterinnen und Vertretern der Bünde selbst beschickt und bestehen. Ergänzend zu ihnen müssten Arbeitskreise, Impulsgruppen und Initiativen treten, in denen sich Menschen um gewisse Themen, Projekte und Ideen zusammenfinden. Sie können "Andockstationen" für auch nur punktuelle Mitarbeit von "Zeitarmen" sein und neue Wege bei der Personalrekrutierung erschließen.

Dann, erst dann wird die Partei wirklich eine moderne, urbane christdemokratische Partei sein, die die Menschen und ihre ganz unterschiedlichen Bedürfnisse zu erkennen und zu vertreten vermag! (Christian Mertens/DER STANDARD Printausgabe, 5. Dezember 2008)