Haraldur Johannsson muss Wien verlassen. Eine Rückkehr schließt der freundliche 80-jährige Isländer aber nicht aus.

Foto: derStandard.at/Putschögl

Ein Bild von dem Haus, in dem er seine Jugend verbrachte. "Wir hatten Kühe. Manchmal dauerte es stundenlang, die zu finden und nach Hause zu bringen. Und da habe ich die Natur kennen gelernt."

Foto: derStandard.at/Putschögl

Beim Bier erzählt Haraldur Johannsson von seiner leiblichen Mutter, die er erst mit 18 kennen gelernt hat, und vom Onkel aus Amerika, den er heimgeholt hat nach Reykjavik.

Foto: derStandard.at/Putschögl

"Die isländischen Männer sind immer Einzelgänger. Und die kommen alle nach Hause. Ich möchte zum Beispiel auch nicht irgendwo anders begraben sein. Unmöglich."

Foto: derStandard.at/Putschögl

Die Finanzkrise, die seine alte Heimat an den Rand des Bankrotts brachte, schlägt sich jetzt auch auf die persönlichen Lebensumstände des in Wien lebenden Isländers Haraldur Johannsson durch: Wegen der Abwertung der Krone gegenüber dem Euro hat sich seine Pension in wenigen Monaten halbiert. Jetzt hat er nicht mehr genug Geld zum Leben.

Er ist der einzige Isländer in Österreich, dem es so ergeht, bestätigt Botschaftsrätin Johanna Bjarnadottir im Gespräch mit derStandard.at. Mehrere solche Fälle gebe es aber in skandinavischen Ländern und in Spanien. Der isländische Staat sei bemüht, den Leuten bestmöglich zu helfen. Dazu gehöre auch die Organisation der Heimreise, die in Kooperation der isländischen Ministerien für Soziales und für Äußeres abgewickelt werden. Den Zeitpunkt der Heimreise bestimme Johansson selbst, so Bjarnadottir.

Bevor es so weit ist, traf Martin Putschögl den isländischen Pensionisten in seiner Wiener Wohnung - und ging mit ihm dann noch auf ein Bier.


***

Früher ist sein Heimatland immer mit Irland verwechselt worden. Das hat sich nun ein bisschen verändert. "Jetzt kennt jeder Mensch Island. Durch die Krise", sagt Haraldur Johannsson. Der alte, freundliche, fast kahlköpfige Herr aus Reykjavik sitzt weit nach vorne gelehnt auf einem Couchsessel in seiner Wohnung im dritten Wiener Gemeindebezirk und lächelt. Sein Deutsch ist recht gut, mit dem Verstehen der Fragen des Journalisten tut er sich aber manchmal etwas schwer.

Mit 62 kam er hierher, nach Wien. In der österreichischen Bundeshauptstadt, deren kulturelles Angebot er so sehr liebt, wollte er seine Pension genießen. Was er viele Jahre lang auch getan hat. Jetzt ist er 80 und steht vor einem Problem: "Ich bekomme meine Pension von Island, und ich bekomme das in isländischem Geld." Weil die Krone gegenüber dem Euro zuletzt aber so massiv abgewertet hat, werden ihm statt zuvor etwa 1.400 nur noch rund 700 Euro an Rente ausbezahlt. "Ich brauche 500 Euro für die Miete, und dann habe ich noch 200 für Essen und das alles." Im September begannen die Probleme, erzählt er, während er an seinem löchrigen Pullover zupft. Im Oktober bekam er dann gleich überhaupt nichts.

Kurz: Herr Johannsson hat Geldsorgen.

Viel gesehen, viel verloren

Nicht zum ersten Mal in seinem Leben. Das Gute daran: Es scheint ihm nicht viel auszumachen. "Ich bin ja nie traurig", sagt er einmal während unseres Gesprächs, als er erzählt, wie er schon einmal alles verloren hat.

Mehr als zwei Jahrzehnte lang arbeitete er bei der Fluglinie Icelandair. "Da bin ich viel herumgekommen, habe sehr viele Länder gesehen" - in Europa etwa "alles, außer Portugal. Das ist das einzige europäische Land, wo ich nie war." Er verkaufte Flugtickets, 22 Jahre lang. "Dann haben sie mir aber eine Arbeit gegeben, die mir nicht gefallen hat und die auch nicht meine Art war." Er ging weg von der Airline, war eine Zeitlang Reiseführer, betreute Touristen in Island, verdiente "sehr viel Geld" - und fuhr dann für elf Monate auf die Philippinen. "Das war herr-lich", sagt Johansson, mit weit geöffnetem Mund und Betonung auf jeder Silbe.

Weil danach noch ein bisschen Geld übrig war, gründete er ein eigenes Reisebüro in Island, das zunächst auch sehr gut lief. "Das war sehr gut, aber die Währung hat es wieder kaputt gemacht." Nach der Umstellung der isländischen Krone 1980 - aus 100 "alten" wurde eine "neue" Krone - stiegen seine Schulden gegenüber ausländischen Firmen enorm an. "Ich habe alles verloren, hatte eine große schöne Wohnung gehabt in Reykjavik, musste alles verkaufen."

Der Geist der Wikinger

Wer an der jetzigen Krise schuld ist, weiß er - er liest schließlich Zeitungen, auch isländische, im Internet. "Die Probleme kommen von den Spekulanten, die zuviel Geld geborgt und im Ausland eingekauft haben." Die Verantwortlichen in den isländischen Banken nennt er "Dummköpfe, die einfach zu weit gegangen sind."

Zur Regierung in Reykjavik hat er nach wie vor Vertrauen, auch zu Nationalbankchef Davíd Oddsson, den er einen "klugen Mann" nennt - mit der Einschränkung: "Vielleicht zu klug." Die Verantwortlichen hätten sich "besser anschauen müssen, was die Banken machten."

Als die isländische Kaupthing Bank vor wenigen Wochen ihr Österreich-Geschäft aufnahm, war er "sehr böse. Weil sie bessere Konditionen angeboten haben als daheim." Schon kurze Zeit später hörte er aber in den Nachrichten, dass alle isländischen Banken vor dem Bankrott stünden. "Und es ist keine Entgegnung aus Island dazu gekommen" - da war für Herrn Johannsson alles klar.

"Gierig und unvorsichtig"

Wie es so weit kommen konnte, ahnt er auch: "Das stammt vielleicht von den Wikingern, diese Lust darauf, mehr und mehr zu bekommen. So waren die Wikinger, und wir stammen ab von denen." Noch heute seien die Isländer "gierig - und nicht so vorsichtig", lacht er.

Nach Wien ist er gekommen, weil er in den Fünfziger Jahren schon einmal ein Jahr lang hier gelebt hatte, und seit dieser Zeit trug er ein Gefühl der Sehnsucht nach der Donaumetropole in seinem Herzen - er nennt es "Heimweh", ganz selbstverständlich. "Ich wollte immer reich werden und dann nach Wien fahren. Das hat dann so geendet: Ich hatte nichts und bin trotzdem nach Wien gefahren."

Er lacht laut auf. Dabei ist sein Mund zuerst weit geöffnet, dann schließen sich die Lippen zu einem spitzbübischen Grinsen. Er zupft erneut am löchrigen Pullover, streicht sich über den Kopf.

Auf Staatskosten retour nach Island

Als es vor etwa zwei Monaten schon recht eng wurde mit dem Geld, rief er den isländischen Botschafter in Wien an, erzählte ihm von seinen Problemen. Der versprach, zu helfen. "Finanziell natürlich nicht, aber die sind in Verbindung mit der isländischen Regierung wegen meines Rückzugs nach Island." Dies sei nämlich nun der einzig mögliche Ausweg, sagt Johannsson. "Ich kann nicht hier bleiben, ich kriege hier viel zu wenig Geld."

Den Rückflug kann er sich selbst auch nicht mehr leisten. Deshalb hat ihm die isländische Botschaft zugesagt, dass der Staat die Kosten für seine Rückkehr tragen wird, "mit all meinen Sachen. Und ich verlange auch, dass die mir eine Wohnung besorgen. Und wenn das so weit ist, werde ich fahren. Das wird in den nächsten Monaten so weit sein. Das ist okay."

Schon bei seinem letzten Besuch in Island hat er laut über eine Rückkehr nachgedacht. Freunde rieten ihm damals davon ab: "Die sagten: 'Es geht dir sehr gut in Österreich. Hier wird es dir nicht so gut gehen, weil alles so teuer ist.'"

Jetzt sei es genau umgekehrt, sagt Johannsson. Geld wollten sie ihm schicken aus Island, doch das ging nicht, weil die Banken nichts ins Ausland transferieren durften. Jetzt hat sich das wieder gebessert, "aber der Preis des Euro ist viel zu hoch".

Wiederkehr nicht ausgeschlossen

Dass Island jetzt der Euro-Zone beitreten will, begrüßt er. "Ich erinnere mich, wie es war, als Österreich zur EU kam. Ich dachte damals, dass Island das auch tun sollte." In Island sei bisher kaum in der Öffentlichkeit über die EU gesprochen worden. Aber jetzt mit der Krise habe sich das geändert. "Heute ist die Mehrheit dafür, dass wir der EU beitreten. Aber ich meine, wir sollten das freiwillig gemacht haben - ohne Krise." Freilich hätte das Land die Krise in dem Ausmaß erst gar nicht getroffen, wäre es schon in der EU gewesen, ist er sicher.

Haraldur Johannsson glaubt auch fest daran, dass es mit Island in Kürze wieder bergauf gehen wird - auch wenn das für ihn möglicherweise zu spät kommt. Er wird schon sehr bald nach Island zurückkehren. Aber vielleicht kommt er irgendwann zurück. "Ich mag Wien sehr. Ich bin jetzt 18 Jahre hier, ohne Probleme. Die einzigen Probleme, die ich habe, kommen von zuhause", lacht er.

Auf ein Bier

Österreichischer Staatsbürger zu werden hat er bisher nie ernsthaft in Erwägung gezogen. Auch jetzt ist er sehr skeptisch, ob das etwas bringen könne. Er glaubt, dann trotzdem real nicht mehr Pension zu bekommen als jetzt. "In Island würde das natürlich reichen", aber hier ist es zu wenig. "Ich kann nichts machen. Wenn ich die Pension bekomme, dann geht fast alles für Miete und Heizung drauf. Ich bezahle im Monat 100 Euro für Heizung, Gas und Strom."

Nicht einmal ein Bier könne er sich leisten, sagt er. Ob er denn noch auf eines gehen wolle? Die Frage hat er sofort verstanden. "Ja, gerne. Dann kann ich auch besser sprechen", grinst er.

-> Weiter zu Teil 2

(Teil 2; zurück zu Teil 1)

Wir gehen raus in die umliegenden Straßen, finden ein kleines Beisl, das aber erst um fünfzehn Uhr öffnet. Es ist fünf Minuten vor drei. Weil er drinnen schon eine Dame erblickt, klopft Haraldur Johannsson an die Glastür. Sie sperrt die Tür auf.

Beim Bier erzählt Johannsson dann über seine Kindheit und Jugend. 1928 in Reykjavik geboren, wuchs er in Nordisland auf, weil er im zarten Alter von einem Jahr adoptiert wurde. In seinem Wiener Wohnzimmer hängt heute noch ein Bild von dem kleinen weißen Haus direkt an der Küste, in dem er seine frühen Jahre verbrachte.

Nach der Realschule kam er zurück nach Reykjavik, zum Studieren. In den Sommermonaten verdiente er das Geld dafür, einmal als Heringsfischer, dann als Straßenbauarbeiter. 1952 hörte er auf zu studieren und begann in einem Kleidergeschäft, 1958 kam er zu Air Iceland.

***

derStandard.at: Was mögen Sie an Island so?

Johannsson: Die Natur. Und die Leute sind so freundlich.

derStandard.at: Freundlicher als hier?

Johannsson: Ehrlich gesagt: Die Österreicher sind nicht unfreundlich. Jetzt nicht mehr. Am Anfang fand ich das schon. Aber die passen auf, dass man ihnen nicht zu nahe kommt. Das ist okay.
Die Österreicher sind gute Leute, habe ich gespürt. Aber ich kenne zu wenig. Manche Ausländer sagen: Man kann gut in Österreich leben, weil es so viele Ausländer gibt (lacht).

derStandard.at: Wird Ihnen das Wiener Kulturleben sehr abgehen?

Johannsson: Ja, ich bin Kunstliebhaber. Aber auch Naturliebhaber. Fanatischer. Ich bin auf Nordisland aufgewachsen. Da waren sehr wenige Leute, es war sehr einsam. Ich bin viel in der Natur gewesen.
Wir hatten Kühe, die musste ich im Sommer jeden Abend holen. Und die waren nie an der selben Stelle. Manchmal dauerte es stundenlang, die zu finden und nach Hause zu bringen. Und da habe ich die Natur kennen gelernt.
Ich glaube, dass die Leute, die in einer Großstadt aufgewachsen sind, nicht so diese Freundschaft zur Natur haben. Das ist schade, sehr schade. Wir sind ein Teil der Natur, und nichts mehr.

***

Seine leibliche Mutter lernte er mit 18 kennen, weil seine Stiefmutter ihr versprechen musste, dass er sie besuchen kommt, sobald er nach Reykjavik zurückkommen würde. "Das war der schwerste Weg, den ich je gehen musste. Aber als ich da war, war alles wunderbar", sagt er. Bis zu ihrem Tod hatten sie Kontakt. "Sie hat zwei andere Kinder vor mir gehabt. Die waren ihr überhaupt nicht ähnlich. Aber ich war es."

Wer sein Vater war, hat er nie erfahren. "Das hat mir aber kein Problem bereitet. In mir drinnen habe ich immer gedacht: Es könnte sein, dass ich mich dafür schäme."

Die Frage, ob er selbst Kinder hat, verneint Haraldur Johannsson zunächst. Dann ist ihm aber doch etwas zu entlocken: Eine Frau sei einmal schwanger geworden von ihm, weil er so arm war, habe sie sich aber von ihm abgewendet und sei mit einem Amerikaner in die USA mitgegangen. Verheiratet war er nie, denn es war ihm immer "sehr, sehr wichtig, frei zu sein. Wenn ich spüre, dass mir etwas zu nahe kommt, bekomme ich Angst."

Und dann erzählt Johannsson noch von einer anderen Eigenart der Isländer, die ihm selbst jetzt allerdings möglicherweise sehr bald unfreiwillig blüht: "Zum Schluss" kämen die Isländer nämlich "immer alle nach Hause".

***

Johannsson: Ein Bruder meiner Mutter ging zum Beispiel als 16-Jähriger nach Amerika. Er war gelernter Schmied und hat am Bau des Empire State Building mitgearbeitet. Als ich bei der Icelandair war, besuchte ich ihn einmal in New York. Er war damals schon 78, hatte eine kleine Wohnung in Brooklyn, und war ein Trinker geworden. Er lebte alleine in einer schmutzigen Wohnung mit einer Katze, alles war voller Spinnen. Und er hat mir Whiskey angeboten, wir tranken aus schmutzigen Gläsern. Er hat so halb isländisch, halb englisch gesprochen, und mich gefragt, ob ich ihn einmal abholen würde, wenn er heimkommen wollte. Vier Jahre später, mit 82, habe ich ihn dann tatsächlich heimgeholt nach Reykjavik. Das war eine Mordsarbeit (lacht). Aber er ist zurück nach Island, wurde dort sehr gut aufgenommen, alle waren sehr freundlich zu ihm.

derStandard.at: Hat Ihre Mutter noch gelebt, als er heimkam?

Johannsson: Nein, die war schon gestorben. Er ist begraben in seiner Heimat, und ich bin froh, dass er nach Hause gekommen ist. Das ist so, mit allen Isländern. Besonders die Männer. Die Frauen sind oft mehr verbunden, mit Kindern und so. Aber die Männer sind immer Einzelgänger. Und die kommen alle nach Hause. Ich möchte zum Beispiel auch nicht irgendwo anders begraben sein. Unmöglich.

***

Ans Sterben denkt der fröhliche alte Herr aus Reykjavik aber noch lange nicht. Und wer weiß, vielleicht wird er ja doch noch Österreicher. Zunächst muss er zurück nach Island, aber wenn die Auswirkungen der Krise überwunden sind, die isländische Volkswirtschaft und vor allem die isländische Krone sich wieder erholt haben, kommt er vielleicht wieder. Nächstes Jahr wird sein Land die Aufnahme in die EU beantragen, vermutet er, und den Euro bekommt Island vielleicht sogar schon davor, da wird es dann wieder aufwärts gehen.

"In fünf Jahren ist das alles gut. Island wird besser nach dieser Krise", ist er überzeugt. Warum? "Weil wir daraus lernen werden. Wir werden klüger", sagt Haraldur Johannsson. Lacht, und trinkt sein Bier aus. (Martin Putschögl, derStandard.at, 5.12.2008)