Wien - Top-Chirurgen aus 54 Ländern treffen diese Woche in Wien beim 36. Weltkongress des "International College of Surgeons" (ICS) zusammen, um neueste Entwicklungen aus allen Bereichen der Chirurgie zu diskutieren.

Fortschritte in der Nervenchirurgie

"Große Fortschritte sind in der Nervenchirurgie zu verzeichnen", so Hanno Millesi (Millesi-Center an der Wiener Privatklinik), Chairman des Local Advisory Committee des ISC. Durch moderne Strategien lassen sich schwere Nervenverletzungen besser behandeln, entscheidende Fortschritte wurden durch die zunehmende Einbindung der Gehirnforschung in das Gesamtkonzept der Nervenchirurgie erzielt. "Man weiß heute, dass unter günstigen Voraussetzungen das Gehirn in der Lage ist, die Funktion von Gliedmaßen weitgehend zu gewährleisten, obwohl alle zur Gliedmaße führenden Nerven zerstört wurden. Durch innovative chirurgische Methoden lässt sich erreichen, dass ein Nerv eine zweite Funktion übernimmt, ohne seine Hauptfunktion zu verlieren."

Nerven verlagern Tätigkeit

Wenn zum Beispiel die Wurzeln peripherer Nerven, die bestimmte Muskeln der oberen Extremität (etwa eines Arms) versorgen, vom Rückenmark ausgerissen sind, kann die Kontinuität ihrer Tätigkeit nicht wieder hergestellt werden. Allerdings können andere Nerven dazu herangezogen werden, durch eine entsprechende Verlagerung ihrer Tätigkeit einen bestimmten wichtigen Muskel wieder zu aktivieren. Ein Problem dabei: Die ursprüngliche Funktion des verlagerten Nervs wird dabei geopfert.

Am Millesi-Center und dem Ludwig Boltzmann Institut für Traumatologie wurde die "End-zu-Seit" Koaptation weiter entwickelt, mit der sich dieses Problem jetzt vermeiden lässt. "Wird der nicht funktionierende Nerv seitlich an einen gut funktionierenden Nerv angeschlossen, kann heute in vielen Fällen der gesunde Nerv eine Zusatzfunktion übernehmen: nämlich den nicht mehr versorgten, gelähmten Muskel zu beleben, und trotzdem auch seine ursprüngliche Funktion weiter auszuführen", so Millesi.

Beispiel Motorradunfall

Ein Beispiel: Ein Patient hat durch einen Motorradunfall einen Ausriss der den rechten Arm versorgenden Nerven erlitten. Besonders wichtig war die Wiederherstellung der Funktion der Beugung des Ellbogengelenkes. Der Nervus phrenicus, der das Zwerchfell versorgt und bei der Atmung eine wichtige Rolle spielt, wurde über ein Nerventransplantat dazu herangezogen, den Bizepsmuskel zu aktivieren, den wichtigsten Beuger des Ellbogengelenkes. Die ursprüngliche Funktion am Zwerchfell ließ sich vollständig erhalten.

Neue Erkenntnisse: Regenerationsfähigkeit des Nervensystems

Wesentlich für viele Fortschritte nach Operationen des peripheren Nervensystems sind die neuen Erkenntnisse zur Gehirnplastizität, also der Regenerationsfähigkeit des Nervensystems. Das Gehirn verarbeitet Reize, die wir über unsere Sinnesorgane aufnehmen. Damit aus diesen Informationen ein zusammenhängender Sinneseindruck entsteht, arbeiten mehrere Bereiche des Gehirns zusammen. Das komplexe Muster, das im Gehirn die Peripherie abbildet, wird als "kortikale Landkarte" bezeichnet. Wird ein Nerv zerstört, fehlen die entsprechenden Signale an das Gehirn, und die Landkarte löst sich auf: das Gehirn muss eine "neue Sprache" erlernen.

"Use it or loose it!"

Wenn die wachsenden Nervenfasern von der Verletzung ausgehend nach einer bestimmten Zeit wieder im Zielorgan (z.B. Fingerspitze) "angekommen" sind, erhält das Gehirn wieder Signale, die "kortikale Landkarte" wird mühsam neu zusammengesetzt. Da es lange dauern kann, bis die Signalweiterleitung wieder funktioniert, wird in der klassischen Neurorehabilitation zunächst abgewartet, bis der Kreislauf der Signalleitung wieder intakt ist. In dieser Zeit hat sich allerdings die kortikale Landkarte verändert, und es ist deutlich schwieriger, ihre ursprüngliche Form wieder herzustellen. Die Rehabilitation startet üblicherweise erst dann, wenn der Patient zumindest eine Vibrationsempfindung hat. Dann können spezielle Verfahren der Neuro-Rehabilitation die Landkarten besser erhalten und so eine optimalere funktionelle Rehabilitation gewährleisten. Denn bei der Plastizität des Gehirns gilt der Grundsatz: "Use it or loose it!"

Zukunfts-Hoffnung bei Querschnittslähmung

Viel schwieriger als bei peripheren Nerven ist es bei zerstörten Nerven des ZNS, aber auch hier sind gewisse Fortschritte zu verzeichnen. Es klingt fast wie Science Fiction: Wo nach schweren Unfällen der Rollstuhl bisher unausweichlich ist, könnten Chirurgen in Zukunft durchtrennte Nervenstränge in der Wirbelsäule durch andere überbrücken. Bei Tieren funktioniert der Ansatz bereits.

"Die Fasern des Zentralnervenstranges in der Wirbelsäule haben andere Eigenschaften als die der peripheren Nerven. Einmal verletzt oder durchtrennt, sind nicht mehr in der Lage, sich zu regenerieren. Bei meist unfallbedingten Durchtrennungen der Zentralnerven waren die Heilungschancen daher bislang gleich Null und die Querschnittslähmung irreversibel", so Millesi. "Das Problem besteht vor allem darin, dass die Verbindung zwischen dem Gehirn und den unterhalb der durchtrennten Stelle liegenden Nervenkomplexen verloren gegangen ist, wodurch automatisierte motorische Vorgänge wie zum Beispiel das Gehen nicht mehr funktionieren. Die Lösung könnte darin bestehen, dass wir mit periphere Nervenfasern einen mikrochirurgischen Bypass an der verletzten Stelle des Zentralnervenstrangs legen."

Im Tierversuch hat sich so ein innovativer Ansatz teilweise bereits als erfolgreich erwiesen. Bis zu einer Anwendung am Menschen liegt allerdings noch ein weiter Weg vor den Forschern.

Mitwachsende Prothese für Kinder

Einen Meilenstein in der Versorgung von Knochendefekten bei Kindern stellt die "mitwachsende Prothese" dar, die von Rainer Kotz (Vorstand der Univ.-Klinik für Chirurgie am AKH Wien) und seinem Team entwickelt wurde und sich seit 1986 bewährt. Auf dem ISC-Kongress konnten jetzt Langzeitergebnisse berichtet werden. Infrage für die am AKH in der Regel verwendete "manuelle minimal-invasive Prothese", die immer wieder per Operation in ihrer Länge angepasst wird, kommen Kinder und Jugendliche im Wachstumsalter, die aufgrund eines Tumorbefalles eines Beines operiert wurden und massive große Knochenverluste erlitten haben.

Der Hintergrund: Zuvor wurden die Kinder mit Knochentumoren mittels Amputation oder "Umkehrplastik" behandelt: einer Verkürzung des Beines mit 180grädiger Verdrehung der Fußes, damit das Sprunggelenk als Kniegelenk verwendet werden kann. Die mitwachsenden Prothesen hingegen erfordern zwar eine Reihe von Verlängerungs-Operationen, geben aber dem Kind nach Abschluss seines Wachstums ein Bein mit einer normalen Funktion. International wurde dieses Verfahren rund 400mal angewandt, besonders häufig in Japan.

Langzeitdaten

Die auf dem 36. ICS-Kongress in Wien vorgestellten Langzeit-Daten von Martin Dominkus, einem Mitarbeiter von Kotz: In den vergangenen 22 Jahren wurden am Wiener AKH insgesamt 75 Patienten mitwachsende Prothesen implantiert, 25 davon befinden sich gegenwärtig am Ende ihrer Wachstumsphase und tragen zum Teil noch die Kinder-Prothese, zum Teil eine Erwachsenen-Prothese. Die durchschnittliche Prothesen-Verlängerung betrug 10 Zentimeter pro Patient, im Durchschnitt wurde ein Patient 10mal operiert. In den meisten Fällen gab es pro Eingriff eine Prothesen-Verlängerung von 1,5 Zentimeter. Ist die Länge der Prothese voll ausgenützt, so ist eine größere Operationen erforderlich, bei der das Verlängerungsstück durch ein längeres ausgetauscht wird. Meistens folgt nach vier Operationen mit einem kleinen Schnitt ein größerer Eingriff.

Inzwischen wurden am AKH auch acht automatische Verlängerungsprothesen implantiert, um die kleinen Operationen zu vermeiden. "Unsere Erfahrungen mit automatischen Wachstumsprothesen sprechen allerdings dafür, dass in der Mehrzahl der Fälle die manuelle minimal-invasive Prothese das sicherste Ergebnis liefert. Dieses System ist auch für die Gesundheitssysteme finanzierbar. Die diversen Automaten müssen noch als experimentelle Therapie gesehen werden", so Kotz.

Herz- und Lungenchirurgie mit kleinen Schnitten

Auch neue Erkenntnisse aus dem Bereich der Herz-Thorax-Chirurgie stehen auf der Agenda des ISC-Kongresses. "Wie in anderen Sparten der Chirurgie auch, geht in der Herz-Thorax-Chirurgie der Trend in Richtung schonende Eingriffe, bei denen große Schnitte durch endoskopische Interventionen vermieden werden. Auch wenn sie in der Herzchirurgie heute noch keineswegs Routine sind, so stehen uns heute doch eine Reihe verschiedener minimal-invasiver Techniken zur Verfügung, die erfolgreich eingesetzt werden", beschreibt der Herzchirurg Ernst Wolner (Wien) einen in Wien diskutierten Trend. In der Bypassoperation sind minimal-invasive Verfahren beispielsweise ebenso im Kommen wie bei Herzklappenoperationen. Immer öfter werden Operationen auch mit Unterstützung von Operationsrobotern endoskopisch durchgeführt.

Stammzellen

Einige Experten präsentieren auf dem Kongress Arbeiten zum Einsatz von Stammzellen, etwa zur Regeneration von zerstörtem Herzgewebe nach einem Infarkt. "Hier liegen sehr interessante experimentelle Ergebnisse und erste klinische Erfahrungen vor", bewertet Wolner den Stand der Dinge.

Brustkrebs: Brust-erhaltenden Therapie

Großes Interesse unter den Kongressteilnehmern findet etwa das umfassende Konzept der Behandlung des Brustkrebses, welches vonRaimund Jakesz (AKH Wien) und seinem Team entwickelt wurde und unter seinem Vorsitz präsentiert wird. Dank der Fortschritte auf diesem Gebiet ist die Brust-erhaltende, also nicht verstümmelnde Operation bei Brustkrebs heute Standard. Bei Patientinnen in einem Tumorstadium ohne Beteiligung der Lymphknoten konnten die in der ABCSG (Austrian Breast and Colon Cancer Study Group) mitwirkenden Spitäler derzeit österreichweit eine Brusterhaltungsrate von ca. 80 Prozent erreichen, dabei ohne das Risiko eines Lokalrezidives zu erhöhen - eine Verdreifachung innerhalb der vergangenen 15 Jahre. Damit liegt Österreich mehr als doppelt so hoch wie die USA.

Metabolische Chirurgie - Skalpell heilt Diabetes

Das noch relativ neue Gebiet der "metabolischen Chirurgie" fasst chirurgische Methoden zusammen, mit denen Fettleibigkeit und deren Begleiterscheinungen behandelt werden. Je nach Verfahrenswahl handelt es sich um einen mehr oder minder großen bauchchirurgischen Eingriff mit Veränderungen am Magen-Darmtrakt. Weltweit sind das verstellbare Magenband ("gastric banding") und die Magenumgehungsoperation (Magenbypass) am häufigsten.

Zahlreiche klinische Studien, so zeigt sich auf einer Veranstaltung unter dem Vorsitz von Karl Miller (KH Hallein, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Adipositas-Chirurgie und metabolische Erkrankungen), belegen die Wirksamkeit dieser Eingriffe. Neuere Daten zeigen, dass derartige Eingriffe bei Menschen mit Typ 2 Diabetes einen direkten positiven Effekt auf die Erkrankung haben, unabhängig von der Gewichtsabnahme. Er stellt sich auch bei relativ geringer Gewichtsreduktion oder bei Diabetikern mit geringem Übergewicht ein. Weit über 80 Prozent der operierten Typ 2-Diabetiker mit einem Magenbypass benötigen auf lange Sicht weder Insulin noch Medikamente zur Diabetes-Therapie, eine Verbesserung der Insulinresistenz wird bei 99 Prozent beobachtet. Klinische Studien zeigen besonders beim Magenbypass eine hohe Effektivität in der Normalisierung der Zuckerstoffwechsellage. (red)