"Der Ort ist nicht größer als ein Dorf. Und doch kennen sich nicht alle, nicht jeder weiß, wo der andere wohnt. Sie sind alle bewaffnet, sie kommen sich nicht zu nah, sie geben nicht allzu viel von sich preis. Sie sind heute noch da und morgen verschwunden."
Foto: Andreas Horvath aus "Heartlands" (Fotohof, 2007)

 

 

Fotohof


Tobias Hülswitt, geb. 1973 in Hannover, studierte am Literaturinstitut in Leipzig. Seit 2007 arbeitet er als Lehrer für Deutsch als Zweitsprache in Integrationskursen in Berlin-Kreuzberg. 2005 war er Gastprofessor am Deutschen Literatur-Institut, 2008 Stipendiat der Villa Aurora in Los Angeles. Zuletzt erschien Dinge bei Licht, Erzählung (KiWi)

 

 

Hülswitt

"Wenn der Mond hier größer wirkt als in Europa, dann gilt für die Sonne vielleicht dasselbe. Wenn das Firmament in Amerika unendlich viel höher erscheint und die Sterne heller funkeln, dann bin ich zuversichtlich, dass diese Umstände die Höhen symbolisieren, zu denen sich Philosophie, Dichtkunst und Religion seiner Bewohner eines Tages aufschwingen werden."  (Henry David Thoreau)

Was Henry David Thoreau über Philosophie, Dichtkunst und Religion sagt, gilt für alles andere Amerikanische auch, wobei mit "Höhen" freilich nicht das Beste gemeint sein kann, sondern die Dimension. Die Vereinigten Staaten, die für gewöhnlich gemeint sind, wenn wir Amerika sagen, bringen alles, was sie hervorbringen, in Dimensionen hervor, die uns Europäern fremd sind. Sie bringen einen George W. Bush hervor, und sie bringen einen Obama hervor. Sie stehen auf den Fundamenten der Bill of Rights Thomas Jeffersons und errichten Guantánamo. Sie tragen in Teilen die Züge eines Dritte-Welt-Landes, und zugleich ist ihre Börse der Leitindex der Weltwirtschaft. Alles, was in den USA Existenz annimmt, tut dies in großem Stil.

Verantwortlich dafür ist die Landschaft. In Europa sind es die Niedrigkeit des Himmels und der Reichtum an Details auf engstem Raume unter ihm, die unser Denken kleinmütig und penibel, aber auch differenziert und präzis werden lassen. In den USA sind es die Höhe des Himmels, die Weite des Landes mit seinen wilden Leerstellen und die Kompromisslosigkeit der endlosen Landschaften, die die Maßlosigkeit, Wildheit und Pragmatik des Denkens hervorbringen - Pragmatik, weil in diesen Weiten überlebt werden muss, und Denken, das weder praktischen Nutzen erkennen lässt, noch Weite und Wildheit widerspiegelt, wirkt nutzlos und arrogant (also europäisch). Die Landschaft bringt Freiheit, Möglichkeiten und: Einsamkeit.

Bevor ich im Oktober 2008 meinen Aufenthalt als Stipendiat der Villa Aurora in Los Angeles antreten durfte, war ich eine Woche zu Gast an der Washington State University in dem kleinen Ort Pullman, nahe der Grenze zu Idaho. Ich nutzte die Besuche in den germanistischen Seminaren, um von den Studenten zu lernen. Ich bat sie, mir Stichworte zu geben, die unbedingt in eine Beschreibung Amerikas gehörten. Natürlich fehlten in keiner Liste der kulturelle Pluralismus des Landes, dessen Rolle als Weltpolizei und der Mythos der unbegrenzten Möglichkeiten. Neben diesen Begriffen aber fielen immer zwei, mit denen ich nicht gerechnet hatte, jedenfalls nicht in dieser Regelmäßigkeit: "Landschaft" und "Einsamkeit" . Ich erinnere mich an die Worte aus Thoreaus Essay Vom Spazieren (Walking), und es lag nahe, die Einsamkeit ebenso wie das Gefühl der Freiheit und der unbegrenzten Möglichkeiten als einen von der Geografie gegebenen Bestandteil Amerikas zu verstehen.

"Hey, wie war deine Party?"

Beim Essen in der Kantine der Uni in Pullman saßen der Professor und ich mit drei Studentinnen und einem Studenten am Tisch. Die eine der beiden Studentinnen hatte ein Schuljahr in Deutschland verbracht, die andere hatte ihre Kindheit in Holland verbracht. Der Student dagegen war nie aus den USA herausgekommen. Ich fragte alle drei nach der Einsamkeit. Ein Riesenproblem, sagten die jungen Frauen. Freundschaften seien hier nicht das Gleiche wie in Europa. Es könne einem hier passieren, dass man jemanden zu seinem Geburtstag einlade, jemanden von dem man glaube, es sei eine Freundin, diese sage auch zu, käme aber nicht, und fragte am nächsten Tag, statt sich für das Nichterscheinen zu entschuldigen, mit dem freundlichsten Lächeln der Welt: "Hey, wie war deine Party?" Freundschaften besäßen nicht die Tiefe und nicht die Beständigkeit, wie sie es in Europa kennengelernt hätten. Die dritte Studentin, die am Tisch saß, bestritt dies. Sie wohne mit einer Freundin zusammen, die sie seit der Grundschule kenne, so schlimm sei es also nicht. Ich fragte den Studenten ganz direkt: "So, are you lonely?" Und ohne zu zögern, antwortete er: "Yes." Als er merkte, wie wir alle verstummten, fügte er schnell hinzu: "Aber ich denke, das liegt in der Natur des Menschen, es ist nichts Schlimmes, wir sind doch alle mehr oder weniger einsam!"

Am Ende meines Aufenthalts in Los Angeles fuhr ich mit meiner Begleiterin in die kalifornische Wüste, an einen Ort namens Slab City. Sean Penn drehte hier einen Teil seines Films Into the Wild. Im Winter versammeln sich dort, in der warmen Wüste, zu Hunderten die Snowbirds, Zugvögel mit Wohnwagen und Wohnmobilen. Wenn die Snowbirds im Frühjahr wieder aufbrechen, bleibt eine Gemeinde von etwa 150 Menschen zurück, die fest in Slab City leben: Aussteiger, Veteranen, Outlaws. Der 30-jährige F. zum Beispiel, der vor einer Haftstrafe hierher floh und den Ort nicht mehr verlassen kann. Oder Tim, der nach dem Einsatz in einem Krieg nicht in die Gesellschaft zurückfand. Container Charlie, der drei Monate des Jahres in San Francisco arbeitet, um den Rest in seinem Wohnzimmer unter freiem Himmel in der Wüste zu leben. Zach, früherer Literaturstudent, der auf Güterzügen umherfährt und in einem alten Wassertank in Slab City seine Basis hat. Außerdem Dopeheads, Althippies, Kleinkriminelle. In Slab City hörten wir später die Geschichte, Sean Penn habe bei seinen Dreharbeiten einen inzwischen verstorbenen Slab-City-Bewohner namens Insane Wayne vor der Kamera haben wollen. Insane Wayne aber saß gerade im nächsten Ort im Knast. Penn fuhr mit einer Limousine vor, zahlte die Kaution und nahm ihn mit. Und als Insane Wayne im Wagen saß, soll er gesagt haben: "I wish I had some friends, so I could tell them."

Dieselbe Aura der Einsamkeit umgab alle, die wir in Slab City kennenlernten. Sie nannten sich eine Familie, und der Ort ist nicht größer als ein Dorf. Und doch kennen sich nicht alle, und nicht jeder weiß, wo der andere wohnt. Sie sind alle bewaffnet, sie kommen sich nicht zu nah, und sie geben nicht allzu viel von sich preis. Sie sind heute noch da und morgen verschwunden.

Sie nannten sich eine Familie

Noch einmal stieß ich auf diese Einsamkeit, als ich auf dem Rückweg nach Deutschland in Boston Halt machte, um den Erfinder Ray Kurzweil zu interviewen. Er hatte zweieinhalb Jahre zuvor das Buch Fantastic Voyage veröffentlicht. Darin sagt er zum einen voraus, dass der Mensch durch die Kombination von Biotechnologie, Robotik und Nanotechnologie den Tod überwinden wird und dass zum anderen im Jahre 2045 artifizielle Intelligenz die menschliche überholen wird, wobei der Mensch bis dahin mit dem Computer verwachsen sein wird. Für die einen, vor allem die Europäer, ist Kurzweil ein Fantast und Sektengründer, für die anderen ein MIT-studierter Visionär. Bill Gates jedenfalls saß mit ihm schon ein paar Mal zu Lunch. Das Interview drehte sich zum Teil um menschliche Empathie und die Sprengung ihrer Begrenztheit durch die - von Kurzweil erwartete - Möglichkeit der Vernetzung unserer mit Computer-Hard- und -Software aufgerüsteten Hirne. Mehr Empathie scheint er sich also zu wünschen. Und über seine Bücher sagt er, dass er sie unter anderem schreibe, um die relative Isolierung zu überwinden, in die seine Gedanken ihn versetzt haben. Er wünsche sich einfach mehr Leute, die sie nachvollziehen könnten.

Ich erzähle nicht von ihm, um Werbung für ihn zu machen. Ich betrachte ihn als Erzähler, und ob seine Vorhersagen fundiert oder ersponnen sind, kann ich kaum einschätzen. An dieser Stelle interessiert er mich als ein weiterer in die Einsamkeit vorpreschender Mensch. Ich glaube, dass er diese Einsamkeit für sein Denken braucht. Denn es ist die Einsamkeit, in der er wie der Student in Pullman und die Bewohner Slab Citys lebt, in der ihrer aller Freiheit - vom Gesetz, von den Arbeitszwängen der Gesellschaft, vom kleinen und ängstlichen Denken - gründet. Und in derselben Einsamkeit gründen die Möglichkeiten, seien es gute oder gefährliche, und die Beweglichkeit Amerikas. Die Wahl Obamas und die Hypothekenkrise sind nur weitere Mondlandungen. Dort oben war es sicher auch recht einsam.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 6./7./8.12.2008)