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Am Ende des Tages warten auf die Beamtin des Jugendamts nichts als Erschöpfung und Verzweiflung: Anika (Adina Vetter).

Foto: APA/Trierenberg

 Wien - Auch wenn sich aktuell die moderne Hochleistungsgesellschaft ganz ungeniert wehleidig im Licht der Finanzkrise sonnt: Die meistenteils unbedankten Zuarbeiter standen bereits lange vor dem Kredit-Crash unsichtbar im Schatten. Die Rede-Partitur Kaspar Häuser Meer der Dramatikerin Felicia Zeller ist ein Königinnendrama neuen Typs: Es macht aus drei Sozialarbeiterinnen, die mit Rat und Tat über das Wohl vernachlässigter Kinder entscheiden, gestandene Heldinnen eines in Wahrheit nicht zu bewältigenden Alltags.

Der Witz des Textes, den Regisseurin Tina Lanik aus Anlass der Erstaufführung im Wiener Burg-Kasino unter lauter zerknüllten Packpapierbahnen klug, aber auch ein wenig pauschal versteckt hat (Bühne: Magdalena Gut), liegt in der Tragik unausgesetzter Überforderung.

Denn während die öffentliche Hand ihre Geldmittel einfriert, werden Menschen "wie du und ich" mit allen ihren Lebensproblemen an Fürsorgeeinrichtungen verwiesen. Wer zum Beispiel nicht fähig ist, seinen Pflichten als Erzieher nachzukommen, kann sich an das Jugendamt wenden. Oder er wird, sofern für das Kind Gefahr in Verzug ist, durch die Expertise einer zuständigen Referentin von der Erziehungspflicht entbunden.

Zeller setzt mit ihrem Patchwork-Text aus Einzelfällen und Tiraden also etwa dort ein, wo nichts mehr geht. Wo die heftig kunstgelockte Sozialarbeitsveteranin Barbara (Barbara Petritsch) ihre Erzählungen bereits in ein wütendes Anklagebrüllen hinüberpeitscht, während ihr zartes Nervengeflecht doch bloß von der Galle der Melancholie gefleckt wird.

Gestrandete bei Prospero

Zwischen Kopiergeräten und Computerkonsolen stehen, sitzen, knurren drei Damen wie Gestrandete auf Prosperos Insel. Im Getriebe des Formularausstellungswahns bleiben ihre "persönlichen Schicksale" garantiert auf der Strecke. Die verhuschte Anfängerin Anika (Adina Vetter) muss sich erst einfügen ins Amt. Muss im Problemfeld der sozialempirischen Überforderung hilflos herumstöckeln und sich hinter Pausenkaffeeschalen verstecken.

Die patente Silvia (Alexandra Henkel) ist dafür die Ariensängerin unter den drei Göttinnen der Ohnmacht: Sie würgt in affenartigem Bearbeitungstempo grandiose Fallstudienblätter aus sich heraus. Sie kann mustergültig mit Papierfliegern schießen, und ihr ohnehin von Problemen überwuchertes Privatleben wird von der Androhung eines Jahresabschlussberichtes rein beruflich stark paralysiert. Ein einziges, missgelauntes Espritgewitter in der finsteren Jugendamtshölle, von Zellers köstlichen Satzeinfällen wie mit Sprachlametta behängt: "Setz dich mal auf deine innere Parkbank!" Oder, das ganze Ausmaß der Misere beschreibend: "Was unternehmen? Ich bin doch kein Unternehmer!"

Und doch sieht Regisseurin Lanik ihren Schutzbefohlenen aus der sicheren Deckung heraus bloß zu. Zellers Stück, Ergebnis einer Auftragsarbeit für das Freiburger Theater, ist dort in seiner Argumentation am plausibelsten, wo es die Konfusion der Sphären, der öffentlichen wie der privaten, wie eine griechische Tragödie besingt.

Kaspar Häuser Meer erzählt von der schleichenden Unterhöhlung unserer "Redekompetenzen" : Anika, Silvia und Barbara sind bessere Sozialspediteure, die das Erlahmen gesellschaftlicher Bindungskräfte mit untauglichen Mitteln auszugleichen haben.

Wettkampf ums Prestige

Längst halten die Ansprüche des Wettbewerbs auch die Räume des Privaten besetzt. Der Kapitalismus zersetzt zuverlässig auch solche Einrichtungen, die den Zumutungen des Wettkampfs um Prestige und Macht enthoben scheinen. Feierabend, dieses ehemals trauliche, wollsockenwarme Versprechen an alle Niedriglohnbezieher, gibt es nicht mehr. Die "ganz persönlichen Messiasfestspiele", die diese Sozialhelferinnen voller Engagement für sich geltend machen, scheinen nicht mehr ausreichend dazu geeignet, Sinn zu stiften und ihre Arbeit zu legitimieren.

Und so ließe sich eine ganz andere, riskantere Inszenierung denken: ein Gemetzel vielleicht, von Blitzen im Abendrot des gesellschaftlichen Zusammenhalts durchzuckt. Tina Lanik hat gezögert und dann kompetent vom Blatt herunter inszeniert. Auch das: eine Leistung, wenn auch vielleicht keine zur Gänze befriedigende. Der Applaus war dennoch stark. (Ronald Pohl, DER STANDARD/Printausgabe, 16.12.2008)