In Belgien werden schwere Vorwürfe gegen Premierminister Yves Leterme laut. Er soll beim Verkauf der Fortis-Bank Druck auf die Justiz ausgeübt haben. Medien spekulieren über den Rücktritt des Regierungschefs.

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Brüssel - Die Krise hat in Belgien eine feste Adresse: die Rue de la Loi - oder Straße des Gesetzes - Nummer 16. Dort residiert Regierungschef Yves Leterme. Dort handelte der Christdemokrat im Oktober eine Rettung der Großbank Fortis aus, die ihn nun selbst in höchste Not bringt: Im anschließenden Rechtsstreit um den Verkauf von Fortis an die französische BNP Paribas soll Leterme versucht haben, das Gericht zu beeinflussen. Der Aufschrei ist unüberhörbar.

Die Opposition fordert, wenig überraschend, Letermes Rücktritt. Ungewöhnlicher ist die Reaktion der Fünf-Parteien-Koalition: Sie kündigte einen Untersuchungsausschuss an, der auch Letermes mutmaßlichen Verstoß gegen die Gewaltenteilung aufklären soll. Auf völlig einzigartige Weise schließlich schaltete sich die Justiz ein. Der Präsident des höchsten Gerichtshofs rief die Presse zusammen und zeigte sich "überrascht", in einem Dokument aus Letermes Büro zu lesen, dass dessen Mitarbeiter mit dem Ehemann einer zuständigen Richterin über den Fortis-Fall gesprochen hatte.

Das Höchstgericht sprach eine beispiellos scharfe Rüge gegen Letermes Regierung aus: Sie habe beim Fortis-Verkauf unzulässigen Einfluss auf die Justiz ausgeübt, hieß es in Brüssel. "Leterme schaufelt sein eigenes Grab", titelte Belgiens größte Zeitung Het Laatste Nieuws am Donnerstag. Das Wirtschaftsblatt De Tijd sah die Entlassung Letermes und die Einsetzung einer Übergangsregierung als "das geringste Übel" an. Le Soir gab zu bedenken, angesichts der Finanzkrise und des ungewissen Schicksals von Belgiens größter Bank brauche das Land eine stabile Regierung und einen Premier "auf der Höhe dieser Themen". Für die Gazet van Antwerpen steht schon fest: "Das Land nimmt Schaden" .

Das beeindruckte die Koalition wenig. Nach einer Krisensitzung am Donnerstag hieß es, man wolle weitermachen - mit Leterme an der Spitze. "Ich glaube, wir müssen extrem ruhig bleiben und die Nerven behalten" , meinte der Chef der frankophonen Sozialisten, Elio Di Rupo. Erstmal müsse man alles im Detail untersuchen.

Die Politiker fürchten eine Situation wie im vergangenen Jahr, als das Land nach den Wahlen monatelang ohne mehrheitsfähige Regierung war. Ein heftiger Streit zwischen den großen Sprachgruppen, eine tiefe Staatskrise und die längste Regierungsbildung in der Geschichte des Königreichs haben tiefe Narben hinterlassen. Wahlsieger Leterme schaffte es erst nach mehreren Anläufen ins Amt an der Rue de la Loi 16. (DER STANDARD, Printausgabe, 19.12.2008)

Während die Politiker wieder mit sich selbst beschäftigt sind, wird die Lage bei Fortis zunehmend kritisch. Das Brüsseler Gericht hat den von Leterme eingefädelten Verkauf der belgischen Bank auf Antrag zahlreicher Kleinaktionäre für 65 Tage eingefroren. Die französische Großbank BNP Paribas stellte daraufhin fest, ihre geplante Übernahme von Fortis könne "nicht nach dem ursprünglichen Zeitplan" ablaufen. Alles Weitere bleibt vorläufig offen. Nur manche Kunden schließen ihre Konten. "Ich habe kein Geld mehr bei Fortis" , erzählte ein EU-Diplomat erleichtert. (dpa)