"Mit Konflikten kann man sich später in Ruhe auseinandersetzen, aber das muss nicht an Weihnachten sein."

Die Vorweihnachtszeit wird bei vielen zur nervlichen Belastung, das Weihnachtsfest selbst soll jedoch friedvoll und harmonisch verlaufen. Wenn Idealvorstellung und Realität schließlich aufeinander prallen, können verdrängte Konflikte und seelische Krisen hervortreten. derStandard.at sprach mit Götz Mundle, Chefarzt einer deutschen Privatklinik zur Behandlung von Burn-out-Syndrom, Angst und Depressionen, über zu hohe Erwartungen, das Konfliktpotential von Familienfesten und Weihnachten aus dem Bilderbuch. Die Fragen stellte Maria Fanta.


derStandard.at: Warum können verdrängte Konflikte gerade zur Weihnachtszeit hervortreten?

Götz Mundle: Weihnachten ist die Zeit, in der die Menschen zur Ruhe kommen, abschalten, zu hause sind und sich wieder ein Stück besinnen. Das heißt, ihre eigenen Sinne auch wieder wahrnehmen. In dieser Zeit der Ruhe können verdrängte Konflikte, also Dinge, die im Alltag im Hintergrund gewesen sind, zu Tage treten.

Andererseits haben einige Menschen auch Idealbilder von Weihnachten. Sie verbinden zum Beispiel Bilder aus der Kindheit damit. Das Leben ist aber häufig anders. Das heißt, die Menschen haben oft zu hohe Erwartungen an Weihnachten und denken, es müsste alles perfekt und harmonisch sein.

Dadurch können schon aus kleinen Missstimmungen große Krisen werden. Es kommt zu Enttäuschungen, alte Wunden und Konflikte in der Familie leben auf und es kommt schließlich zu einer Krise.

derStandard.at: Welche Krankheitsbilder treten in solchen Krisen auf?

Götz Mundle: Wird sich ein Mensch in der Weihnachtszeit bewusst, dass der Partner fehlt oder die Kinder nicht da sind, kann das zu einem depressiven Einbruch führen. Es gibt auch Menschen, die im Beruf sehr aktiv sind, sich nur darüber definieren und schließlich feststellen, dass niemand da ist. Manche trinken an diesen Tagen dann auch vermehrt Alkohol. Für Menschen, die anfällig für Depressionen oder psychische Störungen sind, ist Weihnachten eine Hochrisikozeit, das wissen wir aus dem Alltag der Therapie.

derStandard.at: Welche Menschen sind besonders betroffen?

Götz Mundle: Es sind eher Menschen, die allein stehen, die vorher im Beruf unter ganz hoher Anspannung gestanden haben oder Menschen, die eine Veranlagung zu psychischen Krisen haben.

derStandard.at: Der Winter gilt als die „dunkle" Jahreszeit. Kann das auch ein ausschlaggebender Faktor sein?

Götz Mundle: Es gibt die so genannte Winterdepression, die vor allem im November und Dezember auftritt. Diese so genannte saisonal bedingte Depression macht etwa 15 bis 20 Prozent der Depressionen an sich aus. Es ist also nicht der überwiegende Anteil der Menschen, aber es ist eine Unterform. Zu dieser Jahreszeit gibt es wenig Licht, man ist kaum draußen und hat auch wenig Kontakt zu anderen Menschen; das kann eine Depression auslösen.

derStandard.at: Wie soll jemand, der grundsätzlich anfällig für seelische Krisen ist, auf das Weihnachtsfest zugehen?

Götz Mundle: Ganz wichtig ist, dass man Weihnachten ein wenig aktiv gestaltet - das gilt sowohl für Leute, die anfällig sind, aber auch für gesunde Menschen. Man sollte sich fragen, was für Wünsche und Erwartungen man hat und sich auch mit der Familie zusammensetzen und besprechen, wie man die Tage verbringen könnte.

Auch Pausen sind ganz wichtig; nicht die ganze Weihnachtszeit mit Besuchen und Terminen verplanen, sondern sich auch einmal Zeit für sich nehmen und nach innen schauen.

Das Nächste ist, zu überprüfen, ob man nicht zu hohe Erwartungen hat. Es gibt Menschen, die haben beispielsweise genaue Vorstellungen, wie das Essen sein muss. Man sollte aber nicht von einer Bilderbuch-Weihnacht träumen, sondern auch zufrieden sein, wenn es nicht ganz perfekt ist.

Weihnachten sollte also nicht umgesetzt werden, als wäre es ein neues berufliches Projekt, besser einen Gang runterfahren, eine Pause einlegen und bewusst schauen: Wie fühle ich mich? Wie ist der Kontakt mit den anderen?

derStandard.at: Wie können einsame Menschen mit Weihnachten umgehen?

Götz Mundle: Für Menschen, die alleine sind, ist es ganz wichtig zu schauen, ob es nicht doch Kontaktmöglichkeiten gibt - egal ob das nun beispielsweise die Kirche ist oder soziale Vereine. Mit anderen Menschen ein Gespräch führen, in die Kirche gehen, oder gemeinsam essen und Kaffee trinken. Das ersetzt nicht einen verlorenen Partner oder die Kinder, die nicht da sind, aber man ist in Kontakt mit anderen. Das halte ich für etwas ganz Wichtiges.

derStandard.at: Weihnachten ist ein Familienfest. Sorgt das zusätzlich für Konfliktpotenzial?

Götz Mundle: In jeder Familie gibt es Konflikte, in der einen mehr, in der anderen weniger. Natürlich können Konflikte, die unterschwellig da sind, hervortreten, wenn jemand den Drang hat, dass Weihnachten perfekt sein muss. Da kann schon eine Kleinigkeit zu Krisen führen.

Da gilt auch, bewusst damit umzugehen. Weihnachten ist nicht die Zeit der Krisenlösung. Wenn es Krisen oder Konflikte gibt, bitte nicht an Weihnachten ausdiskutieren. Mit Konflikten kann man sich später in Ruhe auseinandersetzen, aber das muss nicht an Weihnachten sein. Es ist besser, sich im neuen Jahr Zeit dafür zu nehmen und aktiv daran zu arbeiten. Es geht nicht darum, zu verleugnen oder so zu tun, als gäbe es kein Problem. Aber ich kann mich auf schöne Zeiten konzentrieren.
Ich glaube, das ist auch ein Kernthema einer Beziehung: Ich muss trotz einer auftretenden Spannung in der Lage sein, auch wieder in einen anderen Modus, in ein Miteinander zu wechseln.

derStandard.at: Was kann man tun, wenn die Situation trotzdem eskaliert?

Götz Mundle: Wenn ein Familienstreit auftritt, wäre es das Wichtigste, sich dessen bewusst zu werden, „Stopp" zu sagen und eine Pause zu machen. Auch ein Ortswechsel oder ein Spaziergang können helfen.

Wenn jemand einsam ist oder merkt, er kommt in eine persönliche Krise, dann wäre es wichtig, Hilfe aufzusuchen. Als ersten Schritt bei Freunden, als zweiten Schritt bei einem Arzt oder Therapeuten.

derStandard.at: Kann es in so einer Krise auch zu Gewaltkonflikten kommen?

Götz Mundle: Theoretisch immer. Wenn wir über Gewalt sprechen, darf man nicht unterschätzen, dass es nicht nur um körperliche Gewalt gehen kann, sondern auch um emotionale Gewalt oder emotionale Spannungen.

Wenn körperliche Gewalt auftritt, geht es um Schutz, um Distanz und darum, räumlich voneinander getrennt zu sein. Da ist auf jeden Fall Hilfe von außen notwendig.

derStandard.at: Die drei wichtigsten Tipps für harmonische Weihnachten?

Götz Mundle: Der erste Tipp wäre, die Zeit gemeinsam und aktiv zu gestalten. Feiern will gelernt sein. Weihnachten sollte als Chance gesehen werden, gemeinsam Zeit zu verbringen. Außerdem sollte man an Weihnachten eine Pause einlegen, zu sich kommen und abschalten können. Der dritte Tipp wäre, auf Körper und Seele zu achten, egal ob mit Yoga, Musik hören oder Langlaufen. (derStandard.at/ 19. Dezember 2008)