Die Tunesierin Lilia Labidi bei der Dialogkonferenz in Wien.

Foto: Matthias Cremer

Standard: Ihre Kernthese auf der Dialogkonferenz war, dass Europäer und Araber keine Ahnung von der Geschichte des anderen haben und das Verhältnis deswegen so schwierig ist. Als Beleg dafür nahmen Sie ausgerechnet den Kampf der Frauen für ihre Rechte.

Labidi: Ich wollte zeigen, dass wir immer nur die eigene Perspektive kennen und deswegen die falschen Fragen gestellt werden. Besonders bei den Frauenrechten: Da sollte es nicht darum gehen, wer in der Entwicklung weiter ist und wer hinterherhinkt. Die Frauenbewegung begann im arabischen Raum und in Europa zur selben Zeit. Die ersten Bewegungen in arabischen Staaten entstanden 1915. Die erste Frauendemonstration fand 1919 in Kairo statt: Frauen demonstrierten für ihr Recht, zur Schule zu gehen, gegen Zwangsverheiratungen, gegen die britische Kolonisation. Die Proteste breiteten sich in die Türkei, nach Tunesien, viel später nach Marokko aus. Zur gleichen Zeit bekamen die Frauen in Europa, in den USA und Kanada ihr Wahlrecht. In manchen Ländern früher, in manchen später. Aber der Punkt ist, dass Frauen dieselben Ideale zur selben Zeit verfolgten.

Standard: Warum ist das für den Dialog wichtig?

Labidi: Weil sonst immer die gleichen Klischees mitschwingen. Die Europäer sagen über arabische Frauen, dass sie ausgeschlossen, dominiert und verschleiert werden. Aber betrachten Sie einen Punkt, etwa die Schleier, näher. In den 1920er-Jahren waren so gut wie alle arabischen Frauen verschleiert, viele sogar vollständig. Zugleich waren sie ausgeschlossen, ungebildet und nur über ihre Rollen als Mütter definiert. Dagegen wehrten sie sich: Ab den 50erJahren verzichteten immer mehr auf die Verhüllung. In den 70er-Jahren kam eine neue Trendwende, der Schleier ist wieder auf dem Vormarsch. Aber nun ist es etwas anderes: Heute sehen viele Frauen den Schleier als Mittel an, um sich selbst zu definieren, sie tragen ihn freiwillig. Daneben sind sie gut ausgebildet, sie arbeiten. Das verändert doch das Bild der Europäer von der unterdrückten Frau.

Standard: Aber Frauenrechte werden doch in weiten Teilen der arabischen Welt eingeschränkt. Beim Frauenwahlrecht allein schon deswegen, weil viele arabische Staaten Diktaturen sind.

Labidi: Das stimmt nicht: In zahlreichen arabischen Staaten steht das Frauenwahlrecht in der Verfassung. In Ägypten, im Libanon, Syrien, im Irak und im Maghreb-Raum.

Standard: Aber diese Wahlen sind in den meisten Fällen nicht frei, während Frauen sich in Europa politisch frei beteiligen können.

Labidi: Wenn Sie das sagen, antworte ich: In Tunesien sind 30 Prozent der Parlamentarier weiblich, in vielen europäischen Staaten ist der Prozentsatz weit niedriger. Ich will nicht leugnen, dass es im arabischen Raum Spannungen gibt und Politiker die Rechte der Menschen einschränken. Aber wir sollten keine Vergleiche anstellen, das bringt niemanden weiter.

Standard: Was schlagen Sie vor?

Labidi: Als die USA in Afghanistan einmarschiert sind, gaben sie an, das auch im Namen der Frauenrechte zu tun. Aber viele afghanische Frauen wollten nicht aufseiten der USA stehen, das hat ihr Leben nur verkompliziert, das war kein guter Weg, um ihre Rechte zu schützen. Was wir stattdessen brauchen ist mehr Dialog, wir müssen uns die aktuellen Entwicklungen ansehen und welche Probleme daraus entstehen. Ein Beispiel: 2007 haben 6000 marokkanische Frauen europäische Männer geheiratet und sind nach Europa gegangen. Zugleich kommen immer mehr Europäer in die arabischen Staaten, sie werden auch irgendwann heiraten wollen. Welche Konsequenzen wird die zunehmende Zahl der Mischehen für unsere Gesellschaften haben? Wie können wir eine Einheit in der Vielfalt herstellen? Das sind die Fragen, die wir uns stellen müssen.

(András Szigetvari, DER STANDARD, Print, 19.12.1008)