Zur Person

Julia Onken (66) ist diplomierte Psychologin und Psychotherapeutin. Sie arbeitete im Strafvollzug und in der Bewährungshilfe. 1987 begann die zweifache Mutter zu schreiben. Julia Onken ist Autorin zahlreicher Bestseller-Ratgeber zum Thema Frausein, Beziehung, Familie. Die Schweizerin gründete und leitet das "Frauenseminar Bodensee", eine Aus- und Weiterbildungseinrichtung für Frauen in Amriswil (Schweiz). Julia Onken hält Aus-, Weiterbildungs- und Paarseminare und ist gefragte Referentin. Zuletzt erschien von ihr "Liebes-Pingpong. Das Beziehungsspiel von Mann und Frau".

Benno Elbs (48) ist promovierter Theologe, studierte berufsbegleitend Psychologie und Religionspädagogik. Der Generalvikar (Leiter der Diözesanverwaltung) der Diözese Feldkirch arbeitet neben seiner Tätigkeit im Ordinariat als Psychotherapeut (Diplom in Logotherapie und Existenzanalyse nach Viktor Frankl) und Supervisor. Elbs wurde 1986 zum katholischen Priester geweiht und war anschließend als Kaplan und Rektor des Studieninternats Marianum in Bregenz tätig. Von 1994 bis 2005, bevor er zum Alter Ego des Bischofs bestellt wurde, leitete er das Pastoralamt der Diözese Feldkirch.

Foto: Standard/Christian Grass

STANDARD: Jeder dritte Befragte hat Angst vor dem Familienkrach unter dem Weihnachtsbaum, ergab eine Umfrage eines deutschen Ärzteportals. Warum diese Ängste?

Onken: Weihnachten rührt die ganz tiefen Schichten unserer Seele an. Es zeigt sich die starke Sehnsucht nach Frieden und Harmonie. Das Jahr über wird eher belächelt, was man nicht als rational einordnen kann. Weihnachten löst dann eine Ambivalenz aus. Man projiziert all seine Sehnsüchte und Wünsche in die Partnerin, den Partner, die Familie.

Elbs: Ein wesentlicher Punkt sind die Erwartungen. Um mit Viktor Frankl zu sprechen: "Wer nach dem Glück jagt, der verliert das Glück." Die Erwartungen, Beziehungserwartungen, sind oft zu hoch und müssen zwangsläufig enttäuscht werden.

STANDARD: Warum ist gerade Weihnachten emotional so überfrachtet?

Onken: Man spürt in dieser dunkelsten Zeit des Jahres, dass sich etwas Besonderes in der Seele vollzieht, eine Sehnsucht nach dem Licht. Je weiter weg Menschen von religiöser Verarbeitungsmöglichkeit sind, umso mehr wird sich diese Sehnsucht auf die Beziehung, auf die Familie verlagern. Wenn diese Suche auf seelischer Ebene nicht verstanden wird, muss der Partner, die Partnerin herhalten.

Elbs: Da muss ich Ihnen auch als Priester recht geben. Wenn der eigentliche theologische Inhalt, der Grund des Festes nicht mehr verstanden wird, dann wird übertragen. In dieser Erwartung muss der Mensch an die Stelle Gottes treten und ist notwendigerweise zum Versagen verurteilt. Das Entscheidende wäre, sensibel aufeinander zu schauen, das Göttliche im anderen zu sehen. Grundlegend also: Im Zentrum bleibt dann die Botschaft, dass in Jesus Christus Gott Mensch wird. Wie der Evangelist Johannes erkannte: Gott ist Licht, ist Liebe, für die Welt und den Menschen.

STANDARD: Immer weniger Menschen können mit diesen religiösen Deutungen etwas anfangen.

Onken: Auch wenn die meisten Menschen vom religiösen Hintergrund nichts wissen wollen, sieht man an all den beleuchteten Häusern und Gärten, dass sie das Bedürfnis haben, dieses Licht zum Scheinen zu bringen. Ich denke, diese Weihnachtsromantik zeigt, dass noch etwas von dieser Kraft vorhanden ist. Die Menschen können sie zwar nicht mehr gedanklich füllen, aber spüren.

STANDARD: Wie hilft man den Menschen, zu sich selbst zu finden?

Onken: Indem man über diese Gefühle, die Bedürfnisse und Wünsche spricht, sie freilässt.

Elbs: Mir fällt dazu das Wort 'erinnern' ein. Sich daran erinnern, wie das als Kind war - das Staunen des Kindes wiederzuentdecken ist ein guter Weg zu Weihnachten.

Onken: Ich hab zu Weihnachten oft gebetet: "Lieber Gott, lass meine Eltern nicht schon wieder streiten." Ich wollte nicht enttäuscht werden und wurde es doch immer wieder. Aber für mich war es immer wichtig zu wissen, irgendwo gibt es einen Ort, wo man mich versteht.

STANDARD: Man soll also wieder zum Kind werden?

Onken: Eine Möglichkeit, zu sich selbst zu finden, wäre es zu lernen, sich dem Fest aus der Perspektive des Kindes zu nähern und sich damit auch wieder an das Kind, an das verletzte Kind in sich selbst, zu erinnern.

Elbs: Wenn die Seele offen ist, man bereit ist, zu staunen, dann ist der Zugang zu diesem Wunder, das Weihnachten bedeutet, nicht versperrt.

STANDARD: Für viele ist die Wirklichkeit eine andere: Auf Weihnachtsstress folgen Weihnachtsblues, Enttäuschungen und Streitigkeiten, leider auch oft familiäre Gewalt. Wie kann man solchen Konflikten vorbeugen?

Onken: Indem Paare lernen, miteinander zu reden. Eine geglückte Partnerschaft will erarbeitet sein. Das Pflegemittel für die Partnerschaft ist das Gespräch, das müssen Paare begreifen. Sie sollten sich sagen, was sie bedrückt, was sie freut - aber ohne den anderen anzuschuldigen und mit Erwartungen zu überfrachten. Sonst wird die Beziehung an die Wand gefahren. Dafür ist der Heiligabend ein guter Zeitpunkt.

STANDARD: Warum?

Onken: Wenn die Erwartung so groß ist, genügt schon ein Blick, und alles wird umgedeutet. In dieser hochgeladenen Spannung kommt es dann zur Eskalation.

STANDARD: Wie kann man die Eskalation verhindern?

Elbs: Ganz wichtig sind Rituale, die sind wie Anker in der Seele. Das können beispielsweise gemeinsame Gebete sein.

Onken: Ich kann mir gut vorstellen, dass nicht alle beten wollen. Aber man kann ja auch was anderes gemeinsam tun, etwa einen Spaziergang machen. Die Natur kann große Heilkraft haben. Ich stimme mit Ihnen aber überein: Rituale haben hohen Stellenwert - etwa das gemeinsame Essen. In vielen Familien wird das Weihnachtsessen über Generationen tradiert. Man bringt auf den Tisch, was man als Kind schon gerne hatte. Auch wenn es etwas ganz Einfaches ist, das Essen ist die Krönung.

STANDARD: Die Gestaltung des Weihnachtsfestes an sich birgt schon viel Konfliktpotenzial. Eltern und Kinder, vor allem Jugendliche, wollen nicht immer dasselbe. Wie ist das zu lösen?

Onken: Da bewähren sich Familienkonferenzen mit den Kindern. Jeder sagt, was er, sie sich erwartet, aber verbindet damit nicht, dass auch alles so geschehen muss. Jedes Familienmitglied äußert seine Wünsche, und dann wird gemeinsam geklärt, was realisierbar ist.

Elbs: Der Besuch der Christmette kann sehr bereichern. Man ist gemeinsam unterwegs.

STANDARD: Die heile und perfekte Familie ist selten. Besonders für Patchwork-Familien ist Weihnachten-Feiern kein leichtes Unterfangen.

Onken: Das Perfekte kann man vergessen, das ist eine Illusion. Man muss sich daran gewöhnen, dass das Leben nicht perfekt ist, sondern ein Reifungsprozess. Dann wird man auch einsehen, dass es die perfekte Partnerschaft, die perfekte Familie nicht gibt.

Elbs: Diese Illusion ist wie die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies. Der Mensch sucht - im Beruf, in der Partnerschaft, im Kick. Wenn es Menschen schaffen, miteinander zu beten und zu feiern, wird es möglich zu erkennen, dass Versöhnung, dass Friede ein zentrales Geschenk ist.

Onken: Versöhnung, dafür ist das Weihnachtsfest eine gute Möglichkeit. Ich mache jetzt, wie auch in meinen Vorträgen, etwas ganz Untheologisches und interpretiere die Figuren der Weihnachtsgeschichte. Ich frage nach den Seelenkräften, die sie symbolisieren.

STANDARD: Was fällt Ihnen als feministische Psychotherapeutin zur Gottesmutter ein?

Onken: Die Figur der Maria ist sehr wichtig, auch wenn sie für mich als Feministin mit all dem Unbefleckten eine problematische Figur ist. Für mich geht es bei ihr um das Gegenwärtige, das Zukunftsorientierte. Auf die Beziehung übertragen: Ich begegne meinem Partner immer wieder neu, schleppe nicht den Rucksack mit all den alten Geschichten mit, um sie aufzuwärmen, Fehler zu addieren und vorzuwerfen.

Elbs: Radikal offen für Neues, das war Maria, offen und mutig. Durch sie kam Gott in die Welt. Weihnachten heißt: Gott ist da. Aber er überwältigt den Menschen nicht, er berührt den Menschen von innen her. Wie rührt man den Menschen mehr als durch ein Kind?

STANDARD: Wofür steht die Figur des Christkinds?

Onken: Psychologisch gesehen ist das Kind Symbol für den Neuanfang. Jeder Mensch ist angesprochen, diesen Weg zu diesem Kind, zum Unbewussten zu finden. Theologisch gesehen sicher nicht richtig, weil er dann im Innersten ja wieder Gott finden würde ...

Elbs: ... gar nicht so falsch. Gottesfunke in jeder menschlichen Seele, im eigenen Herzen. Davon sprach schon der Kirchenvater Origenes.

STANDARD: Diese Weihnachten werden schon viele Menschen die Wirtschaftskrise spüren - eine zusätzliche Belastung?

Onken: Ich sehe das nicht so negativ. Durch Krisen durchzugehen ist eine Möglichkeit, bei sich selbst anzukommen.

Elbs: Weihnachten ist eine Zeit der Unterbrechung, man wird offen für neue Impulse. Deshalb hat Weihnachten heuer hohen aktuellen Wert. In Krisenzeiten kommt der theologische, auch der psychologische Inhalt des Festes zum Tragen. Jesu Leben ist geprägt von der Solidarität. Wenn auch alle Aktienkurse purzeln, dann darf eine Aktie nicht fallen: die der Menschlichkeit. (Jutta Berger, DER STANDARD, Printausgabe, 22.12.2008)