Zuflucht versus Gefängnis, Klaustrophobie versus Platzangst: Eine "richtige" Familie aus der Kinder-Perspektive.

Es ist ein ergreifendes Lied der Beatles: "She's Leaving Home", die Geschichte eines jungen Mädchens, das im Morgengrauen von zu Hause flieht und einen Brief auf dem Küchentisch hinterlässt. Wir hören von den Gefühlen des Teenagers, den die Mittelmäßigkeit seiner Eltern enttäuscht, aber auch von denen der Eltern, die bestürzt sind über diesen Abschied. Familie lastete einst auf uns wie ein schweres Joch. Heute erinnert sie eher an ein löchriges Zelt, durch das die Luft und der Regen hineinwehen. So jedenfalls eine weitverbreitete Ansicht über das von der individualistischen Revolution und den vielen Scheidungen angerichtete Debakel. Jeder zehnte kleine Franzose lebt in einer Patchworkfamilie, jeder vierte mit alleinerziehenden Eltern, meist mit der Mutter, die Zahl der Heiraten sinkt ständig. Ein neuer Begriff ist aufgetaucht, die "Quasis", mit dem Kinder des Lebenspartners ohne jede verwandtschaftlich Beziehung bezeichnet werden. Der Gesetzgeber sucht nach legalen Statuten für solch komplizierte Verhältnisse.

Ist es aber nicht zugleich erstaunlich, dass dieses Phänomen in Frankreich einhergeht mit einer in Europa einzigartigen Fruchtbarkeitsrate, die sich einer klugen Politik mit Krippen und Stützung von Tagesmüttern verdankt? Durch sie wird die Arbeit der Frauen nicht mehr zum Feind, sondern zur Alliierten der Geburtenrate. Und: Ist es nicht ebenso erstaunlich, dass der Zerfall der Familien zugleich mit einem Wunsch nach Familie in bisher davon ausgeschlossenen Minderheiten korrespondiert - nämlich bei Schwulen und Lesben?

"Familien, ich hasse euch!", lautet ein berühmter Ausspruch André Gides. "Familien, ich liebe euch", antwortete der Philosoph Luc Ferry, der mit dieser Formel die Ausbreitung der Privatsphäre begrüßte. Vielleicht sollte man nuancieren: Familien, ich liebe euch, aber nur ab und zu. Denn diese Kleingruppen haben ihre Zwiespältigkeit keineswegs verloren: Sie sind zugleich Zuflucht und Gefängnis, sie nehmen den Atem und geben Sicherheit.

Unersetzliche Momente der Geborgenheit, glückliche Erinnerungen, liebende Sorge für die Nachkommen: Die Familie ist das einzige Vaterland, für das man noch zu sterben bereit ist, für das man sein Leben opfert. Aber es gibt auch eine Kehrseite der Medaille: Diese Blöcke einer exklusiven Solidarität sind oft geschlossen wie Festungen und lassen niemanden heraus. Hebt man den Deckel, mit dem sie sich schützen, sieht man das Gewimmel aus Pathologien und Korruption.

Im Innersten der Familien stößt man auf den schlammigen Grund der Seelen: Gewalt, Verrat, Inzest, immer wieder aufgewärmter Hass. Die Idee, dass man von diesen Leuten abstammt, ist ekelerregend. In anderen Haushalten versinkt man eher in Selbstverehrung, in dem der Fremde allenfalls die Rolle des Spiegels spielt, der den Glanz des Clans reflektiert. Wir sind so schön in Ihren Augen: Bitte kommen Sie oft wieder, um es uns zu sagen. Noch die entspanntesten Stämme haben ihre Abgründe und sündigen durch Gefühligkeit oder Gewalt. Anarchische kleine Gefühlsdemokratien, die ihre Konflikte und Tabus unter einem Lächeln verbergen.

Was hält die Mitglieder eines Stamms eigentlich zusammen? Bestimmt nicht mehr die Autorität, eher die Neigung, das gemeinsame Interesse. Nichts hindert die Eltern, sich scheiden zu lassen, die jugendlichen Kinder, die Tür hinter sich zuzuschlagen, Brüder und Schwestern, einander zu ignorieren. Keine Pflicht ist noch durch Biologie begründet. Konzentriert auf das Glück ihrer Mitglieder durch ständige Verhandlung will die Familie vor allem ein Sprungbrett für das Kind sein, dem sie den notwendigen Schutz gewährt, um es auf die Welt vorzubereiten. Aber beim ersten ernsten Problem lassen sich die Eltern scheiden, es bleiben der kleine Junge, das kleine Mädchen als peinliche Zeugen eines erloschenen Begehrens, und auf der anderen Seite die Senioren, die man Richtung Ausgang schiebt und in Altersheimen parkt. Das Glück ist unerbittlich. Es fordert hier und dort ein Selbstopfer, um zustande zu kommen. Aus der einstigen Bedrängnis wird heute das Gefühl des Ausgesetztseins. Der Philosoph Isaiah Berlin sah in der viktorianischen Epoche den Triumph der Klaustrophobie: Verschließung, Angst und Kleinlichkeit. Für die jetzige Zeit sah er das Gegenteil voraus: Platzangst. Schrecken vor einem Ozean ohne Deiche, ohne Autorität und Richtung. Erziehung im Chaos, abwesende Väter, verlassene Kinder und Großeltern. Man hätte gern Verträge auf Zeit, auf einen Knopf drücken, und schon sind sie weg.

Einer der Vorteile unseres Zeitalters: Die freiwillige Kollektivität aus Anlass der großen Festtage. Man genießt die Wärme eines Hauses voller Vereinzelter aus allen Ecken der Welt. Hat Barack Obama nicht gesagt, dass das Weihnachtsfest in seinem Heim mit Verwandten aus vier Kontinenten der Vollversammlung der UNO ähnelt? Als hätte sich die Familie für einen Abend oder eine Woche in den Dienst des Individuums gestellt, das die Gemeinschaft genießen kann, ohne sich gleich rekrutiert zu fühlen. Schwirrende Zuneigung, vielfältige Zugehörigkeit. Wirkliche Unabhängigkeit entsteht nicht aus der Isolierung des Menschenfeinds, sondern aus der Vielfalt der Bindungen. Ein totales Desengagement fürchten wir ebenso sehr wie die Last einer erdrückenden Liebe. Um ehrlich zu sein - wir wollen beide Vorteile ohne die Nachteile: die Solidarität, aber nicht die Abhängigkeit, die Autonomie ohne die Einsamkeit, die Bindung ohne Leine.

Da ist dieser herrliche und schreckliche Satz von Virginia Woolf: "Kein Mensch hat das Recht, einem anderen die Sicht zu verstellen." Hier ist der Ruf nach Befreiung von den patriarchalischen und Ehezwängen vernehmbar. Aber was ist, wenn es sich beim fraglichen Hindernis um ein zum Störfaktor gewordenes Kind handelte, das man los sein will, weil es den Weg zu einem schöneren Leben versperrt?

Das Wunder einer Synthese zwischen Gemeinwohl und Selbstsorge findet nicht statt. Auch heute noch sind die Alternativen tragisch, schwanken wir zwischen widerstreitenden Interessen. Die Familie ist immer zu zwanghaft für unseren Freiheitsdrang und zu abwesend für unser Trostbedürfnis. Dieses Paradox werden wir nicht lösen. (Pascal Bruckner, DER STANDARD; Printausgabe, 27./28.12.2008)