Politik ändert sich, sagt Tenzin Tsundue: Eine Mehrheit der Exiltibeter will nun die Unabhängigkeit von China und nicht länger nur die Autonomie innerhalb der Volksrepublik.

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Standard: Peking hat den Aufstand der Tibeter vor den Olympischen Sommerspielen niedergeschlagen. Gleichzeitig kann China Treffen westlicher Staatschefs mit dem Dalai Lama weiter nicht verhindern, wie jüngst die Begegnung mit Nicolas Sarkozy zeigte. Sehen Sie mit Bitterkeit oder mit einer gewissen Hoffnung auf dieses Jahr zurück?

Tsundue: Die Proteste in Tibet haben dem Kampf unseres Volks sehr geholfen. Tibet-Beobachter haben zu glauben begonnen, den Leuten gehe es gut unter der chinesischen Besatzung, sie hätten sich damit abgefunden, eben weil es lange Zeit keine Proteste gab.

Der Aufstand der Tibeter am 10. März war ein internationales Ereignis. Eine lange aufgestaute Wut hat sich Bahn gebrochen. Wenn wir nicht protestieren, werden wir sterben, dachten sich die Tibeter. 250 Menschen starben, etwa 5000 wurden verhaftet.

Standard: Weder die Exiltibeter noch die internationale Gemeinschaft haben die Niederschlagung des Aufstands verhindern können.

Tsundue: Die chinesische Regierung macht, was sie will. Die westlichen Regierungen reden über Frieden und Menschenrechte, aber in Wirklichkeit tun sie nichts. Ihre Geschäftsinteressen in China haben Vorrang. Welche Regierung legt sich mit China an wegen Tibet, Ostturkestan (Provinz Xianjing mit der Volksgruppe der Uighuren, Anm.) oder der Unterstützung für das Regime in Myanmar?

Standard: Die EU hat protestiert, ebenso die USA.

Tsundue: Das sind Lippenbekenntnisse. Sie könnten viel mehr tun.

Standard: Was schlagen Sie vor?

Tsundue: Die internationale Gemeinschaft könnte eine Untersuchungskommission nach Tibet schicken, die herausfinden soll, was dort wirklich geschehen ist. Westliche Länder mit ihren Wirtschaftsinteressen in China sollten mehr Verantwortung für ihr Geld verlangen. Ihr Geld ist es, das die chinesische Regierung stärkt und deren koloniale Besetzung in Tibet.

Ich meine, am Ende schadet dieses Geld für die korrupten Kommunisten auch den einfachen Chinesen. Als ich 1997 Gefangener in Lhasa war, hatte ich einen Nachbarn in der Zelle, einen Chinesen, der jeden Tag arbeiten musste. Er kam jeden Abend völlig erschöpft und gebrochen zurück. Er hat mir erzählt, was er tun muss: den Dreck aus den Toiletten der Hotels und Gästehäuser der Touristen schaufeln und in den Gemüsegärten verteilen.

Standard: Was hilft es also, wenn Nicolas Sarkozy den Dalai Lama trifft wie im Dezember in Danzig?

Tsundue: Es hilft. Es liegt natürlich an Frankreich, für seine moralische Integrität einzutreten. Sarkozy hat das getan, indem er sich seine Entscheidung nicht von Peking diktieren ließ.

Standard: Aber die Geschäfte laufen weiter.

Tsundue: Die Geschäfte laufen weiter. Aber ein solches Treffen mit seiner Heiligkeit ermuntert andere Staaten in Europa, dem zu folgen.

Standard: Wie würden Sie sich selbst beschreiben? Als einen Schriftsteller mit politischem Programm oder mehr als politischen Aktivisten?

Tsundue: Ich nehme George Orwell zum Vorbild. Er sagte, es ist nicht genug, Gedichte zu schreiben und sie in einem Buch zu lassen. Du musst auf die Straße hinausgehen und sie an die Wand schlagen. Die Ungerechtigkeit bekämpfen. Ich glaube, ich tue das als Dichter. Wir kämpfen heute für die Wahrheit: dass Tibet ein unabhängiges Land war. Und genau das fordern wir wieder.

Standard: Wie wollen Sie die Volksrepublik China loswerden?

Tsundue: Die Volksrepublik China ist eine Fälschung, die Mao Tse-tung 1949 geschaffen hat, ein verrückter chinesischer Nationalismus, der einfach durch Anwendung militärischer Gewalt entstand. In einem sehr viel freieren Staat werden die Chinesen das verstehen. Veränderungen finden jetzt schon statt.

Standard: Ihre Ideen entsprechen nicht ganz dem, was die tibetische Exilregierung als Linie vorgibt.

Tsundue: Die Exilregierung strebt nach Autonomie für Tibet innerhalb Chinas. Aber das ist nur eine politische Linie, und Politik ändert sich. Wir haben eine demokratisch gewählte Regierung. Wenn eine Mehrheit der Exiltibeter für die Unabhängigkeit ist, gibt es einen Wechsel, und den sehe ich jetzt. (Markus Bernath, DER STANDARD, Printausgabe, 29.12.2008)