Die Industrie hat das Thema "Sicherheit" längst als absatzsteigerndes Asset entdeckt. Helme werden immer cooler.

Foto: Indigo

Innsbruck/Wien - Statistiken sind oft eindrucksvoll - etwa wenn sie besagen, dass jeder zehnte 2007 im Spital behandelte Wintersportler Kopfverletzungen aufwies. Aber Statistiken sind auch trocken. Im Gegensatz zu den Einzelfällen, aus denen sie gemacht werden. Und wenn Peter Veider an all die Einzelfälle denkt, die seine Kollegen auf Pisten zu sehen bekommen, stockt der Geschäftsführer der Tiroler Bergrettung noch beim Erzählen: "Es lässt auch einen Routinier nicht kalt, wenn er die Innereien eines Kopfes einsammeln muss - egal ob von einer Piste oder einer Rodelbahn."

Doch derlei, erklärt der Ausbildungsleiter der Bergretter, komme immer öfter vor: Kopfverletzungen auf der Piste, erklärt Veider, nähmen zu - und mehr noch: Auch die Schwere der Blessuren steige.

Gründe dafür, meint Veider, gebe es mehrere. Zum einen gelte oft: "Der Glühwein macht die Leute mutig." Darüber hinaus habe sich aber auch das alpine Setting in den vergangenen Jahren verändert: Dass moderne Carvingskier auch mittelmäßige Fahrer mit höherem Tempo unterwegs sein lassen, sei ebenso mit schuld an der Zunahme der Kopfverletzungen wie der Trend, Pisten immer härter zu präparieren: "Die Pisten sind mittlerweile so hart, dass schon ein an sich harmloser Sturz tödlich enden kann. Für einen Schädelbasisbruch genügt es, aus dem Stand unglücklich zu fallen." Und daran müsse man gar nicht immer selber schuld sein: "Die Leute fahren heute anders als früher - über ihre Verhältnisse und viel riskanter. Auch vernünftige Fahrer müssen sich vor ihnen schützen."

Wo er könne, erklärt der Bergretter, greife er daher ein: Für die 4000 Tiroler Bergretter gilt seit dem Vorjahr absolute Helmpflicht. Und was für Rettungskräfte recht ist, sollte für andere Autoritäten billig sein: "Ich fordere die Helmpflicht für Skilehrer. Jemand, der Verantwortung ernst nimmt, weiß, dass er Vorbildwirkung hat - und nicht unverwundbar ist."

Einer generellen Schnee-Helmpflicht steht der Bergretter skeptisch gegenüber: Der Trend zum Helm sei ohnehin nicht zu übersehen - Kinder sähe man kaum ohne, Jugendliche immer öfter mit: "Die Trendumkehr ist gelungen."

Veiders Beobachtung lässt sich auch aus der Freizeitunfallstatistik des Kuratoriums für Verkehrssicherheit herauslesen: Drei von vier (egal wo) verletzten Skifahrern unter 14 Jahre trugen 2007 Helm. Bei der Altersgruppe der 15- bis 59-Jährigen sah das anders aus: Nicht einmal jeder vierte eingelieferte Sportler hatte einen Helm.

Dass sich das auch auf Art und Schwere der Verletzungen auswirkte, liegt auf der Hand: Von den verunfallten Helmträgern unter 14 hatten acht Prozent Kopfverletzungen. Bei den unbehelmten Jugendlichen schnalzt dieser Wert gewaltig nach oben: Mehr als ein Drittel - 35 Prozent - hatte Kopfverletzungen davongetragen. Dass diese Verteilung weniger mit dem Alter als mit dem Kopfschutz zu tun hat, ist wahrscheinlich, aber nicht belegt: "Aufgrund der geringen Fallzahl für Erwachsene mit Helm gibt es für diese Gruppe keine Aufschlüsselung nach Kopfverletzungen", steht im Begleittext des KfV.

Den mittelfristigen Kopfschutz-Optimismus der Bergretter teilen mittlerweile auch Mediziner. Der Wiener Sportorthopäde Karl-Heinz Kristen erinnert an Helm-Kampagnen, mit denen Ende der 90er-Jahre vor allem Kinder angesprochen wurden. Zu Kampagnenbeginn war der Skihelm auf den Pisten de facto ausgestorben, 2002/03 erhob man aber, dass mehr als die Hälfte der Kinder mit Helm unterwegs waren. "Die Kinder von damals sind heute Jugendliche und junge Erwachsene und gehören statistisch betrachtet zu den Hochrisikofahrern", erklärt Kristen, "aber dass sie von klein auf an den Helm gewöhnt wurden, hilft."

Einladung zum Rasen?

Darüberhinaus "spüren wir einen Paradigmenwechsel", freut sich der Arzt: Warnungen, Kinder mit Helmen würden im Schnee durch ein falsches Sicherheitsgefühl zum Rasen verleitet, sind kaum mehr zu hören. Und Kristen ist Realist: "Kinder und Jugendliche lassen es so oder so 'tuschen' - dieses angebliche Argument des trügerischen und verführerischen Sicherheitsgefühls könnte man dann ja auch beim Sicherheitsgurt im Auto einbringen. Aber da weiß jeder, dass es immer auch die Gefahr gibt, die von anderen Menschen ausgeht."

Den Aufprall, mit dem ein menschlicher Kopf schon bei einem harmlosen Sturz auf der Piste aufschlägt, vergleicht der Arzt mit einem "Kopfsprung vom Drei- oder Fünf-Meter-Brett - nur eben nicht ins Wasser, sondern auf eine harte Oberfläche." Man dürfe nicht vergessen, dass man "meist den Hang abwärts" falle. Kristen: "Für einen Köpfler in den leeren Pool ist der Kopf nicht gemacht."

Der Schädelknochen halte Stürze bis zu zehn km/h "ganz gut" aus - bei steigendem Tempo werde der Aufprall dann aber sehr rasch sehr gefährlich. "Alle High-Speed-Verletzungen können ohne geeigneten Schutz Schädelbasisbrüche oder Gehirnödeme verursachen."

Schon eine Verletzung mit einem kurzem Blackout brauche "14 bis 28 Tage Zeit, bis Hirn und Nervensystem sich wieder komplett erholt haben." Und bei länger andauernder Bewusstlosigkeit "gibt es fast immer irgendwelche bleibenden Schäden", warnt Kristen. Und glaubt nicht, dass seine Unkenrufe überzogen sind. Im Gegenteil, betont der Arzt, der auch Vizepräsident der Gesellschaft für orthopädisch-traumatologische Sport-medizin (GOTS) ist: "Ich will niemandem den Spaß verderben, sondern helfen, den Spaß zu erhalten: Knie, Schultern oder Knöchel kann man heute schon recht gut reparieren - aber das Gehirn nicht."

Rückenprotektor

Das, betont der Sportorthopäde, gelte im Übrigen auch für das Rückgrat: "Jemand, der allein auf der Piste ist und ganz sicher ist, nie unkontrolliert auf den Rücken zu fallen, der braucht tatsächlich keinen Rückenprotektor." Allen anderen aber empfehle er so einen Panzer. "Ich kenne Fälle, wo ein kleiner blöder Sturz an einem Felsen endete - und die Niere gekostet hat." Schulter- oder Ellenbogenprotektoren hält der Sportmediziner "bei normalen Fahrern" allerdings für nicht nötig.

Freilich: Schaden kann derlei Ausrüstung kaum - und das erkennt längst auch die Industrie: Hersteller und Handel springen auf den Sicherheitszug auf - und das sieht der Arzt mit einem lachenden und einem weinenden Auge, "weil das Marketing oft auch mit dem Image von ungezügelter Wildheit kokettiert." Hilfreich sei aber eines: "Mittlerweile gibt es richtig coole Helme." Und diese entsprächen meist den Normen: "Ein Skihelm schützt bei normalem Tempo verlässlich." Sollte also, wer schnell fährt, zum Motorradhelm greifen? "Nein, Gewicht und Volumen spielen eine Rolle: Der Kopf bleibt unversehrt - aber das Genick bricht."

Dass Sicherheit ins Geld gehen kann, zähle nicht, meint Bergretter Veider: Längst gebe es etwa Helme, die für mehrere Sportarten zertifiziert sind. Veider selbst ist Ex- perte für die Entwicklung alpiner Schutzausrüstungen. Im Vorjahr entwickelte er mit dem Touren-equipmenthersteller "Dynafit" einen kombinierten Ski-, Kletter- und Radhelm. Heuer kam die Rodel-Zertifizierung dazu. "Wir hatten letztes Jahr vier tödliche Rodelunfälle in Tirol - vier zu viel."

Gute Skihelme, erklärt Veider, sind heute individuell einstellbar, haben möglichst kleine Lüftungslöcher und schützen auch die Ohren. Und: "Sie haben keine Kopfhörer: Das ist nicht cool, sondern nur wahnsinnig gefährlich." (Thomas Rottenberg/DER STANDARD, Printausgabe, 29.12.2008)