Zwischen Müßiggang und Momenten der Erregung: Pier Paolo Pasolinis Filmdebüt "Accattone", ein aufrichtiges Tribut an das Leben der Armen in den Vorstädten von Rom.

 

 

Foto: Österreichisches Filmmuseum

Wien - Ein junger Mann steht auf einer der Brücken über den Tiber in Rom. Er ist nur mit einer Badehose bekleidet, um den Hals trägt er eine Kette mit einem Herz. Unten am Ufer stehen die Müßiggänger und Schaulustigen und feuern ihn an. Wird er springen? "Wirf doch die Kette vorher noch runter!", ruft einer. "Ich gehe mit dem Gold in den Tod, wie die Pharaonen", ruft Accattone zurück. Dann springt er und taucht mit einem perfekten Köpfler in die Fluten.

Diese Szene aus Accattone (1961), dem ersten Film von Pier Paolo Pasolini, ist bezeichnend für das Missverhältnis zwischen der großen abendländischen Kulturgeschichte und den desolaten Verhältnissen in den römischen Vorstädten wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Der sarkastische Verweis auf das alte Ägypten wird nicht zufällig sein in einem Film, der mit der Musik der Matthäuspassion von Bach beginnt und auch danach eine interessante Balance zwischen hohem Ton und kaum übersetzbarer römischer Alltagssprache sucht.

Schon der Name des Helden Accattone (meistens zu "Accattu" verschliffen) ist eigentlich ein Schimpfwort für einen Mann, der auch schäbige Umwege zu einem kleinen Gewinn in Kauf nimmt. Die Zuhälterei ist für die Tunichtgute, die tagsüber mit nacktem Oberkörper in den Uferkaschemmen sitzen und Karten spielen, fast noch der ehrenwerteste "Beruf". Pasolini geht es in Accattone aber nicht um Moral, sondern um eine menschliche Wahrheit, die vor der Freiheit liegt. Er liebt seine Figuren offensichtlich gerade dafür, dass sie keine bürgerlichen Menschen sind, die sich, aufrichtig oder nicht, Rechenschaft geben über ihr Tun. Accattones Selbstmitleid ("wir sind am Ende - siamo uomini finiti") ist kleinmütig und trifft doch eine Generation der italienischen Nachkriegsgesellschaft, die zu Beginn der 60er-Jahre im Begriff war, von der beginnenden Warengesellschaft enteignet zu werden.

Archaik und Industrie

Diese paradoxe Enteignung durch (billigen) Konsum hat Pasolini bis zu seinen späten Freibeuterschriften immer wieder beschäftigt, und sie bildet nun auch eine Spur durch die Schau Pier Paolo Pasolini und das italienische Kino der 60er-Jahre im Österreichischen Filmmuseum. In bisher nicht gekannter Dichte wird hier das Filmschaffen eines Jahrzehnts aus einem Land präsentiert, das lange Zeit als modellhaft galt, weil es eine Brücke schlug zwischen Archaik und Industrialisierung, Klientelismus und Zivilgesellschaft. Italien hat schon durch seine Nord-Süd-Erstreckung den Widerspruch in sich eingebaut, die Probleme und Lösungen schillern in allen Farben der Aufklärung und der Reaktion.

Das mühsam gezügelte Ressentiment - die "Faust in der Tasche", wie der erste Film des großen Marco Bellocchio heißt (I pugni in tasca, 1965) - schnellt immer wieder hervor. Es schafft aber in einem Klassiker des Bürgerschreckkinos wie Dillinger è morto (1968) von Marco Ferreri auch seltsame Formen von Kultur. Der höhere Angestellte Glauco (Michel Piccoli), der da eines Abends beginnt, eine Pistole in Olivenöl zu marinieren, ist ein höchst privater Surrealist, ein letzter Vertreter der Avantgarde, eingesperrt in die Küche und das Wohnzimmer eines rechtschaffenen Erwerbstätigen.

Die Flucht nach vorn gelingt hier auf spektakuläre Weise, aber Dillinger è morto steht auch schon am Ende dieses Jahrzehnts, das die 40 von Kurator Olaf Möller für das Filmmuseum ausgewählten Filme dieser Schau durchmessen. Die Versprechen, die in den Filmtiteln genannt werden, werden in den Filmen dialektisch (nicht) eingelöst: Die Arbeiterklasse geht ins Paradies (La classe operaia va in paradiso, 1971, Regie: Elio Petri) erzählt zuerst einmal von der Hölle der Fabrik, dann erst von dem falschen Paradies der Träume. Wer am Fließband einen Orgasmus bekommt, ist zu einem Akkordarbeiter der Sexualität geworden.

Vor diesem Hintergrund gewinnen die Accattones dieser Welt ihre Legitimität. Sie mögen zu nichts gut sein, aber sie sind zumindest nicht eingespannt in das Joch. Sie tragen, verschüttet, die Freiheit in sich, die Pasolini unverdrossen im Volk zu finden hoffte. Wie wichtig der Eros dabei ist, war ihm auch klar. Deswegen drehte er die Dokumentation Gastmahl der Liebe (Comizi d'amore, 1964), einen Interviewfilm, in dem die Leute über ihr Liebesleben erzählen, woraus Pasolini den Entwicklungsstand der Gesellschaft ermaß. In den 60er-Jahren war alles auf Fortschritt ausgelegt, nur das Kino blickte weit nach hinten und ließ sich den Kopf nicht verdrehen. (Bert Rebhandl / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 8.1.2009)