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Gedenkbilder in der dörflichen Kapelle, flankiert von Heiligenbildern: Die Toten sind in "März" auf gespenstische Weise präsent.

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Die Unfähigkeit, dem Leben in die Augen zu schauen: Leo (Florian Eisner) unter dem Eindruck des Todes seines Bruders.

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Schon lange nicht mehr habe ich einen österreichischen Film gesehen, der mit einfachen und schlichten Mitteln, völlig unspektakulär, aber höchst eindringlich, in beklemmender und beängstigender Weise Menschen auf dem Lande in ihrer Gefühlsarmut und Sprachlosigkeit zeigt, Menschen, die zerbrochen sind und andere, vor allem junge Menschen zermürben und zerstören, Menschen, die sich vom banalsten Alltag treiben lassen, die aber nicht leben können, die sechzig, siebzig Jahre alt sind, aber trotzdem, hat man jedenfalls das Gefühl, keine Ahnung von einem Leben haben, zu dem sie möglicherweise nicht einmal eine Sehnsucht haben und von dem sie natürlich auch keine Ahnung haben können, von dem sie nichts wissen, Menschen, die nie eine Sprache verloren hatten, denn sie hatten niemals eine eigene Sprache in ihrer kargen katholischen, dörflichen Welt, in der jeder für sich alleine lebt.

Zu keiner Trauer fähig

Jeder für sich, und Gott gegen alle heißt ein Sprichwort und ein bekannter Film von Werner Herzog. "Der Selbstmörder aus physischen und psychischen Leiden ist kein Selbstmörder, er ist nur ein an Krankheit gestorbener", heißt es in einem Aufsatz von Georg Büchner. Die Mutter eines jungen Mannes, der sich das Leben genommen hatte, die zu keiner Trauer fähig ist oder zumindest die Trauer nicht zeigen kann, beginnt zu weinen, als sie an ihrem Geburtstag, bei der eigenen Geburtstagstorte, die sie gebacken hatte, von ihrem überlebenden Sohnes darauf aufmerksam gemacht wird, dass die Vanille fehlt: "Die Vanille hätte hineingehört!" Nur zu einem Aufschrei ist sie fähig: "Mich hat er mit umgebracht!" Dann versinkt sie wieder mit Bitternis in ihre nonverbale Welt, und der Sohn weiß als Antwort nur zu sagen: "Mach einmal eine Therapie, Mama!"

Armut, Vereinsamung, Trostlosigkeit

Das Gedenkbildchen für ihren Sohn, das in der Kapelle umkränzt ist mit Heiligenbildern und Heiligenfiguren, nimmt sie von der Wand, bringt es nach Hause und legt es in eine Schublade hinein. Die Vanille, der Pfefferminzlikör, den ihr Sohn zum Geburtstag mitgebracht hat - "Ma, da Pfefferminzlikör, den hab ich schon lange nicht mehr ghabt!", so die Mutter des Selbstmörders - und die Geburtstagstorte, der Linde-Kaffee, ob in den Händen der Hinterbliebenen oder im Regal des Gemischtwarenladens als untrügliche Zeichen und bildliche Signale seelischer Armut, Vereinsamung, Trostlosigkeit.

"Ich habe keine Kraft mehr!"

Weißer Flieder und weiße Rosen stehen auf einem Tisch in einer Rotkäppchenvase, die rot ist, mit weißen großen Punkten. Als die Mutter den überlebenden Sohn und seine Freundin, von dem sie mit Pfefferminzlikör beschenkt worden ist, fragt, ob sie denn einmal wieder im Elternhaus übernachten könnten, die Eltern aus dem Schlafzimmer ausziehen würden, schließlich Sohn und Freundin, die sich dazu haben überreden lassen, die Betten im elterlichen Schlafzimmer frisch überziehen, da sagt die Freundin beim Einziehen der Bettwäsche zu ihrem Freund: "Zieh einmal!" und der Mann antwortet: "Ich habe keine Kraft mehr!" Er ist gelähmt, er schafft es kaum, in der elterlichen Wohnung die Betten zu überziehen, denn er sollte doch im Bett seiner Eltern übernachten, in der elterlichen Wohnung, in der er mit seinem verstorbenen Bruder aufgewachsen ist.

Dann steht er einmal alleine am Urnengrab seines Bruders vor den leuchtenden, flackernden Kerzen, dreht sich schließlich um, als in der Winterlandschaft ein Dauerläufer im Anorak mit einer Lampe an der Stirn vorbeiknistert im Schnee, das nur sein Bruder gewesen sein kann in diesem Moment, in seinem Kopf, der Bruder, der sich das Leben genommen hatte. "A Hitz, zum Hinwerden!", sagt der andere Bruder des jungen Mannes, der sich das Leben genommen hatte, und der Bruder aus der anderen Familie antwortet: "Wie redest du denn?" Was nichts anderes heißen soll: Wie redest du denn über unsere verstorbenen Brüder, die sich das Leben genommen haben, über meinen und über deinen?

Leben der Gespenster

Einer jungen Frau gelingt es, das Dorf zu verlassen: Sie gibt ihrem Freund, dem Bruder eines Selbstmörders, ein Glas mit Saft. Der junge Mann trinkt und sagt: "Da ist doch noch was dabei? Vanille? Kann das sein?" Und sie sagt dann nur mehr: "Den Schlüssel, bitte!" Sie gibt ihm den Laufpass mit Vanillegeschmack, aber eine andere junge Frau bleibt im Dorf, streicht eine Wand ihrer neuen Wohnung rot an und wird sich wohl einfügen in das Leben der Gespenster.

Am Ende des Films, und das macht wohl auch noch seine Qualität aus, befällt dem Zuschauer diese Ausweglosigkeit, man bekommt Angst, möchte gerne schnell etwas Sinnvolles tun oder zu einem schönen Buch greifen, damit einem diese Figuren, die zwar nur auf der Leinwand ihr gespenstisches Leben führen, die es aber auch rings um uns gibt und die uns bedrängen - überall lauern sie -, man bekommt Angst, dass sie uns nicht ebenfalls heimholen in ihre Welt mit ihrem teuflischen Fingerzeig, der ein Wegweiser zu den Gräbern der Unsichtbaren in diesem Film ist.

Marionetten ihres Alltags

Und deshalb sind die beiden Toten, die einzig mutigen, denen man sich anvertrauen möchte. "...denn wer sich selbst ermordet wagt es doch wahrlich dem Tod in das Auge zu sehen", schreibt Georg Büchner. Die anderen sind weder fähig dem Tod noch dem Leben in die Augen zu schauen, denn eigenes Leben haben sie keines, sie sind Marionetten ihres Alltags und verstecken sich selber und verkennbar hinter ihrem eigenen Schatten und stapfen als schwarzer oder rosaroter Scherenschnitt durch ein Leben, von dem sie keine Ahnung haben. ( Von Josef Winkler/DER STANDARD-Printausgabe, 10./11. Jänner 2009)

Der Kärntner Autor Josef Winkler wurde 2008 mit dem wichtigsten deutschen Literaturpreis, dem Büchner-Preis, prämiert.