"Darwin hat als Reiseschriftsteller sein erstes Geld verdient und war ein ganz großer Stilist." Jürgen Neffe ist ihm sieben Monate lang nachgefahren und hat darüber ein wunderbares Buch geschrieben.

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STANDARD: Nach Ihrem Bestseller über Albert Einstein zum Hundertjahrjubiläum haben Sie nun ein Buch über Charles Darwin geschrieben. Sind Sie auf Geistesgrößen und ihre runden Geburtstage abonniert?

Neffe: Nein, das Darwin-Buch war in dieser Form eigentlich ein Zufall. Nach der Einstein-Biografie wollte ich keine Person mehr in den Mittelpunkt des nächsten Buches stellen. Der ursprüngliche Plan war ein Buch mit dem Titel "Das Leben. Ein Biografie" - eine Art Wissenschaftsgeschichte der Lebenswissenschaften. Im Zuge der Recherchen fuhr ich nach New York zur Darwin-Ausstellung. Und da hatte ich dann die Idee zum Buch. Das Darwin-Jahr hatte ich damals noch gar nicht im Blick.

STANDARD: Wie kamen Sie auf die Idee, für das Buch auf Darwins Spuren um die Welt zu reisen?

Neffe: Ich denke, dass eine klassische Biografie Darwins ja zur Hälfte aus der Reise bestehen müsste, weil sie für sein weiteres Leben und Werk so zentral war. Meine Überlegung war dann, die Reise gleich ganz in den Mittelpunkt zu stellen, und so erzähle ich nun anhand von Darwins Fahrt auf der HMS Beagle das Leben Darwins und in Ansätzen die Geschichte des Lebens, so wie ich es vorgehabt hatte. Und dabei versuche ich, an den passenden Orten etwas über Darwins Grundideen zu schreiben: also etwa in Rio über die sexuelle Selektion.

STANDARD: Hatten Sie sich für Ihre siebenmonatige Reise eine bestimmte Strategie zurechtgelegt?

Neffe: Grundsätzlich habe ich versucht, so wie Darwin zu reisen. Ich hielt mich weitgehend an seine Route, fuhr dazwischen nicht nach Hause und erlebte die Höhen und Tiefen so einer Reise, die eine Mischung aus Zufall und Notwendigkeit war: Vieles war vorgegeben, aber was einem dann auf der Reise selbst alles passiert, kann man nicht immer planen.

STANDARD: Sie haben auf Ihrer Reise - wohl nicht ganz zufällig - alle möglichen Darwin-Experten und Forscher getroffen. Das klingt nach viel Planung.

Neffe: Das stimmt. Die logistische Vorbereitung dauerte rund ein Jahr. Um all die Themen abzudecken, die ich mir vorgenommen hatte, suchte ich vor der Reise auf der ganzen Welt nach Experten. Ich habe dafür bestimmt mehrere Tausend E-Mails geschrieben. Was man im Buch nachlesen kann, sind nur die gelungenen Resultate einer viel umfangreicheren Recherche.

STANDARD: Sie zitieren in Ihrem Buch sehr ausführlich aus Darwins eigenem Reisebericht. Warum?

Neffe: Dafür gibt es einen ganz einfachen Grund: Darwin hat als Reiseschriftsteller sein erstes Geld verdient und war ein ganz großer Stilist. Er schreibt ja zum Beispiel sehr viel besser als Humboldt. Man muss aber schon auch sehen, dass Die Fahrt der Beagle schon auch ihre Längen hat. Als heutiger Lektor hätte ich den Bericht auf die Hälfte gekürzt.

STANDARD: Hätten Sie das auch mit seiner "Entstehung der Arten", dem 1859 erschienenen Hauptwerk Darwins, getan?

Neffe: Natürlich hat auch dieses Buch Längen. Aber es ist wunderbar durchargumentiert. Ein großartiges Werk, das sich wie ein einziges Plädoyer liest. Darwin bemerkt ja auch an einer Stelle, dass es "one long argument" sei. Eine der großen Besonderheiten Darwins ist, seine wissenschaftlichen Texte so verfasst zu haben, dass ein normal gebildeter Mensch sie lesen kann.

STANDARD: Zwischen Darwins Reise und der "Entstehung der Arten", also Darwins erster Veröffentlichung der Evolutionstheorie, liegen mehr als 20 Jahre. In Ihrem Buch gewinnt man allerdings den Eindruck, dass Darwin schon mit einer Art geheimem evolutionärem Leitgedanken losgefahren ist.

Neffe: Richtig. Ich denke, dass der junge Darwin mehr wusste, als man gemeinhin annimmt. Damit gehöre ich zur Minderheit der Wissenschaftshistoriker, die sagen, dass er mit einem unbewusst vorhandenen Muster von Evolution auf die Reise gegangen ist. Es gibt da einige Tagebucheintragungen, die man in diese Richtung deuten kann. Ich führe in meinem Buch als ein Beispiel die Beobachtung der Ameisenlöwen in Australien an, wo er plötzlich vom zweiten Schöpfer spricht, weil unterschiedliche Arten von Ameisenlöwen auf verschiedenen Kontinenten ähnliche Gruben bauen.

STANDARD: Haben Sie eine Erklärung, warum Darwin mit der Publikation der Evolutionstheorie dann trotzdem so lange zuwartete?

Neffe: Ich gehe davon aus, dass Darwin einfach den richtigen Zeitpunkt abgewartet hat, um eine Rezeption in der nächsten Wissenschaftergeneration zu erreichen. Die alten Koryphäen, die seinen Ideen gegenüber nicht sehr aufgeschlossen gewesen wären, waren da schon abgetreten.

STANDARD: Was ist 150 Jahre nach "Über den Ursprung der Arten" für Sie Darwins bleibendes Erbe?

Neffe: Darwin ist natürlich nicht mehr hundertprozentig aktuell. Nach wie vor am wichtigsten ist sicher die Idee der gemeinsamen Abstammung, deren populäre Kurzformel die Abstammung des Menschen vom Affen ist. Das steht so fest wie Einsteins spezielle Relativitätstheorie. Schwächer wird die Beweislage für die natürliche Selektion.

STANDARD: Aber die ist doch bestätigt?

Neffe: Das schon. Aber die natürliche Selektion ist wohl nur der Normalbetrieb der Evolution. Für die großen Entwicklungssprünge braucht es andere Vorgänge, die sich in gewisser Weise aktiver vollziehen. So etwas ist bei Darwin explizit nicht vorgesehen. Bei ihm gibt es eine Art "Lotteriespiel", auf das wir keinen Einfluss haben. Heute wissen wir, dass das nur einer von vielen Mechanismen ist, nach denen sich die Evolution vollzieht.

STANDARD: Darwins größte Schwäche?

Neffe: Er hat den Faktor Umwelt beim Menschen weit unterschätzt - mithin alles, was mit Ernährung, Erziehung und Bildung zu tun hat, also die kulturelle Evolution. Darwin meinte als Kind seiner Zeit, dass alles der natürlichen Auslese und dem "Survival of the fittest" unterliegt und so gut wie alles angeboren ist. Das scheint mir im Übrigen auch heute in der Öffentlichkeit der Fall zu sein, wo man viel mehr an die Macht der Gene glaubt, als die Molekularbiologen selbst, die längst von einem systematischen Zusammenspiel von Genen und Umwelt sprechen. Die Idee vom Gen-Determinismus ist wissenschaftlich mausetot, aber der öffentliche Diskurs hinkt da eine Generation nach.

STANDARD: Sie haben in einem großen Essay in der "Zeit" kürzlich den Darwinismus auch in Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise gebracht.

Neffe: Ja, weil ich denke, dass das gewissermaßen der halbphilosophische Unterbau unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems ist - Stichwort Recht des Stärkeren oder Ellbogengesellschaft. Die Form des Darwinismus à la "Das egoistische Gen" aus den 1970er-Jahren ist in der Wissenschaft aber längst ins Wanken geraten. Und nun könnte das womöglich ja auch in Wirtschaft und Gesellschaft geschehen. (Klaus Taschwer/DER STANDARD, Printausgabe, 10./11. 1. 2009)