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Kein gutes Haar lässt Gay an der Pop-Art, in der er eine ,Zwangsheirat' zwischen gehobener und trivialer Kultur sieht. Gestiftet bzw. erzwungen hat diese Heirat der Kunstmarkt.

Foto: APA/EPA/ANDY RAIN

Der US-Historiker Peter Gay hat sich viel vorgenommen. Er beschreibt die Moderne als "eine Geschichte des Aufbruchs", wie es im Untertitel seines neuen Buches heißt. Freilich sichert sich der Autor auch ab. Er will keine Geschichte der modernen Kunst schreiben, sondern die entscheidenden Etappen sowie exemplarische Werke aus der Kunst-, Literatur-, Musik-, Architektur- und Filmgeschichte zwischen 1840 und 1960 vorstellen. Keine vollständige oder systematische Darstellung, sondern Gay nimmt den Leser gleichsam an die Hand und führt ihn auf 650 Seiten durch sein imaginäres Museum der Moderne.

"Reiz der Häresie"

Diese Selbstbeschränkung verrät auch seine karge Ausgangshypothese zur Moderne. Er sieht sie gekennzeichnet durch zwei Merkmale. Das eine ist der "Reiz der Häresie", das andere "der Hang zur bedingungslosen Selbsterforschung". Diese beiden Merkmale gehören sicher zu den Grundstrukturen der Moderne, die sich in allen Ausprägungen gegen Vorbilder und Traditionen wandte und ihren Blick auch oder gar ausschließlich nach innen richtete - auf das Subjekt und dessen intellektuelle, emotionale und psychische Ausstattung. Gleichzeitig skizziert Gay aber auch den sozialen und politischen Kontext, in dem die Künste in der Moderne stehen.
Politisch ambivalent

"Der Reiz der Häresie" beflügelte alle modernen Künstler im Sturm gegen Tradition und Gewohnheit. Aber Gay betont zu Recht, dass die Moderne politisch keinen gemeinsamen Ausgangspunkt und kein gemeinsames Ziel hatte und obendrein politisch ambivalent war. David Wark Griffith, der Filmemacher aus dem US- Süden, schuf mit Birth of a Nation ein filmtechnisches Meisterwerk, in dem das rassistische Treiben des Ku-Klux-Klans verherrlicht wurde.

"Herrin der Wissenschaften"

Sergej Eisenstein drehte Panzerkreuzer Potemkin, dessen plattes Revolutionspathos hinter dem formalen Niveau der Darstellung weit zurückbleibt. Dasselbe Gefälle kann man in der Literatur feststellen, wenn man an Hamsun, T. S. Eliot oder Céline denkt - alle waren Antisemiten, und Hamsun schrieb einen schmeichelhaften Nachruf auf Hitler. Das schnelle Ende der modernen Kunst in den Diktaturen Hitlers, Mussolinis und Stalins zeigt jedoch, dass Freiheit zu den "unerlässlichen Voraussetzungen der modernen Kunst" (Gay) gehört.

Gustave Flaubert und Charles Baudelaire stehen für Gay am Anfang der Moderne. Flauberts Madame Bovary und Baudelaires Les fleurs du mal erschienen beide 1857. Für Baudelaire hatten Gedichte ihren Ursprung "nicht in Ideen, sondern in Gefühlen". Gay zeigt, wie der Blick nach innen so unterschiedliche Autoren wie Rimbaud, Oscar Wilde, Richard Dehmel oder Théophile Gautier auszeichnete. Schon Nietzsche hat 1885 die Psychologie als "Herrin der Wissenschaften" proklamiert, und Édouard Dujardin (1861-1949) führte 1887 in seinem Roman Geschnittener Lorbeer den inneren Monolog als Stilmittel ein, mit dem Gefühle und Gedanken subtil dargestellt werden konnten.

Expressive Versenkung

In der bildenden Kunst wurde diese Perspektive radikalisiert. Gay spricht von "der expressiven Versenkung nach innen", die sich bei Vincent van Gogh in 41 Selbstbildnissen manifestierte. Die Entwicklung der Malerei ging von der impressionistischen Auflösung der Außenwelt in Farbpunkte über die kubistische Verzerrung der Zentralperspektive bis zur Entleerung der Bilder von realen Gegenständen einen konsequenten Weg. Kandinsky begründete sein "mystisches Wirklichkeitsverhältnis" (Gay) mit dem Essay Über das Geistige in der Kunst (1912), das Kunst und Natur als inkommensurable Größen und Nachahmung damit als unmöglich darstellte. Der Surrealismus - eine autoritäre Ein-Mann-Veranstaltung André Bretons - trieb diesen Gedanken auf die Spitze und erklärte die Kunst als "Bewusstmachung unbewusster Vorstellungen."

Kein gutes Haar lässt Gay an der Pop-Art, in der er eine "Zwangsheirat" zwischen gehobener und trivialer Kultur sieht. Gestiftet bzw. erzwungen hat diese Heirat nach Gay der Kunstmarkt - "das überfüllte Warenhaus der Experimente". Wie vor ihm der Philosoph Arthur Danto sieht Gay im "Grafikgroßhändler" Warhol nicht den Befreier, sondern den Totengräber der Moderne. Selbst wenn man dieses Urteil für zu schroff und zu einseitig hält, muss man Gay zugestehen, dass seine Kritik am marktgesteuerten Überbietungswettbewerb der Schulen und Moden berechtigt ist.

Er spricht im Blick auf die bildende Kunst sarkastisch-ironisch vom "Zeitalter des Erfindungsreichtums", das Warhols sechsstündigen Film hervorgebracht habe, in dem nichts zu sehen sei als das Gesicht eines schlafenden Mannes (Der Schlaf, 1963). Für die moderne Malerei und Musik konstatiert er einen Niedergang, für die moderne Literatur eine Stagnation. Einen Lichtblick sieht er in der Architektur, in der Frank O. Gehry die Moderne innovativ weiterführe. "Musik und Malerei warten dagegen noch auf ihre neuen Strawinsky oder Picasso. Das ist alles, was wir wissen."

Von Meisterwerk zu Meisterwerk

Der 85-jährige Gay verfügt über eine stupende Belesenheit und enorme Kenntnisse auf allen Gebieten der modernen Kunst und obendrein über eine höchst beachtliche erzählerische Gewandtheit. Das Buch ist leicht zu lesen, aber es hüpft von Meisterwerk zu Meisterwerk, ohne dass Zusammenhänge oder Strukturen der Moderne sichtbar würden. Ein Grund dafür liegt im souveränen Verzicht Gays auf jede theoretische Grundlegung. Kein einziger der Autoren von Benjamin über Adorno bis zu Habermas, die sich mit den philosophischen und ästhetischen Grundlagen der Moderne beschäftigten, wird von Gay herangezogen. Die Heterogenität dessen, was "modern" genannt wird, bleibt eine Ansammlung von Beispielen.

Gay verfährt bei seinen Urteilen und bei seiner Auswahl der wichtigen Werke wie ein moderner Künstler und vertraut allein auf seine subjektive Wahrnehmung. So würdigt Gay eher zweitrangige expressionistische Dramatiker wie Georg Kaiser und Carl Sternheim ausführlich, Bertolt Brecht mit ganzen zwei Sätzen. In seiner Darstellung der modernen Musik spielen Alban Berg und Anton Webern sozusagen keine Rolle. Solche Leerstellen schmälern jedoch die enorme Leistung des Autors nicht. (Von Rudolf Walther/DER STANDARD-Printausgabe, 10./11. Jänner 2009)