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Burning-Man-Festival in Black Rock City, Nevada: "Gemeinsam ließen wir uns in ein hedonistisches Treiben und Träumen fallen. In eine ideale Gesellschaft, in der man mit Geld nichts kaufen konnte - außer Eis für die Kühlbox - und Fremde sich einfach umarmten. Niemand fragte nach dem Warum. Zeit existierte nicht."

Foto: REUTERS/Shannon Stapleton

Mike und ich kamen am 20. August in Los Angeles an. Johan und Annelie trafen am nächsten Tag aus London und Miami ein. Wir hatten drei Tage, um es rechtzeitig zum Beginn des Burning Man, des Wüstenspektakels in Nevada, zu schaffen. Meine Erinnerungen an die Stadt sind eine Fahrt entlang des Mullholland Drive und ein Burger bei Wendy's. Ein Leben in L. A. wäre vorstellbar gewesen, hätte ich eine Karriere als Diätberaterin in Beverly Hills geplant gehabt. Zwei Tage später waren wir unterwegs zum Moturis Rental-Service. Im Container-Büro hatte sich an diesem Morgen bereits eine Gruppe junger Abenteuerlustiger versammelt. Bald wurden wir von zwei New Yorkern vor uns in der Reihe gefragt, ob wir auch eine Burning Man Crew seien.

Wir schlossen Bekanntschaft mit Josh und Craig und verabredeten uns für Dienstag um "twelve noon" im Centre Camp. Telefonnummern tauschten wir für später aus - in der Wüste gab es keinen Empfang. Die beiden brachen mit ihrer Mannschaft aus dem Big Apple und Portland, Oregon, zum fünften Mal auf. Es sei "mind-blowing" verrieten sie uns und gaben uns nützliche Informationen mit auf den Weg: Zwei bis drei Gallonen Wasser pro Tag und Person zu bringen; genügend Vorrat an Gatorade, einem Limonade-Drink, der mit seinem hohen Anteil an Elektrolyten sehr gut den Salzverlust kompensiert; absolut unerlässlich waren Schwimmbrillen und Mundschutz für eventuelle Sandstürme. "Just go with an open mind and experience it", grinste Josh.

Großeinkauf bei Wal-Mart

Dann standen wir vor unserem 10 Meter langen amerikanischen Traum. Ein RV (Recreational Vehicle) mit kompletter Ausstattung von Mikrowelle bis Fahrräder. "See you there", rief man sich bei der Abfahrt vom Parkareal zu. Obwohl wir uns immer noch nicht richtig vorstellen konnten, was uns erwartete, spürten wir Vorfreude auf das Unbekannte. Am meisten aber das seltsam wunderbare Gefühl, an etwas Besonderem teilzuhaben.

Nach einer kurzen Einführung über die Bedienung des Generators und einem gut gemeinten Ratschlag, die Toilette nur im Notfall zu benutzen - das Leeren des Tanks war nur an sogenannten Dumpstations erlaubt und, abgesehen von einer 30-Dollar-Gebühr, eine äußerst unangenehme Angelegenheit -, starteten auch wir. Beim Festlegen der Reiseroute sahen wir uns mit einem bisher unbedachten Aspekt konfrontiert: der Herausforderung einer Gruppendynamik. Diese meisterten wir zum Glück (ohne weiteren emotionalen Ausbrüche) beim dreistündigen Großeinkauf bei Wal Mart.

Es war die längste und teuerste Supermarktrechnung, die ich bislang gesehen hatte. Sechs Einkaufswagen ("family size" nach amerikanischer Größenordnung), vollgepackt mit 264 Liter Wasser, Tunfischdosen und Five-Minute-Noodles, Großpackungen an Gatorade und Eiern, dreißig Rollen Klopapier, drei Liter Wodka, fünf Liter Cranberry-Juice, siebzig Dosen Bier, Fertigpizza, Ohropax, Kopfschmerztabletten, Feuchttaschentücher, Taschenlampen, Luftballons, Walkie-Talkies ergaben die Summe von fünfhundertdreiundvierzig Dollar und zwanzig Cent.

Wir entschieden uns für einen Abstecher in den Yosemite-Nationalpark und einen spontanen "skinny-dip" in einem der eiskalten Seen. Unser Radio empfing nur die Frequenz des jeweiligen Lokalsenders, der nach dem Überqueren der unsichtbaren Grenze zwischen Kalifornien und Nevada für den Rest der Fahrt die Bible-Station war.

Am Nachmittag erreichten wir einen kleinen Ort namens Gerlach, der eine letzte Gelegenheit bot, den Tank aufzufüllen. Die öffentlichen Toiletten waren eine Vorwarnung auf die Reihen stinkender Klokabinen, die uns für die nächste Woche nicht erspart bleiben würden. Black Rock City, unser Endziel, war so etwas wie eine Fata Morgana. Es war auf keiner Karte zu finden, weil diese Stadt sich nur einmal im Jahr aus den Zelten und Wohnmobilen ihrer tausenden "Burning Man"-Pilger formierte.

Vor uns eine Kolonne, die irgendwo in der Ferne nach rechts abbog. So ähnlich, stellten wir uns vor, musste die Stimmung beim Konzert der Stones in Altamont gewesen sein. Unsere Ankunft wurde von einem Sandsturm verschluckt, der einer allerletzten Warnung an jene glich, die Alkalistaub in Ohren und Nase nicht leiden konnten. Annelie und ich, ausgerüstet mit Brillen und Masken, suchten das Gate, um die Eintrittskarten abzuholen. Binnen eines Augenblicks hatte sich der feine Sand wie eine zweite Haut über meinen Körper gelegt.

Das Atmen fiel schwer. Leute, vermummt in Tüchern, irrten auf ihren Fahrrädern umher. Platzanweiser in roten Perücken, Badehosen und Stiefeln schienen wie ein Fels in der Brandung. Ein Mädchen tauchte aus dem Nichts auf und verteilte Mundschutzmasken. Ich klammerte mich an Annelies Arm. Zwei Stunden später waren wir im Schritttempo unterwegs in Richtung Camp. Vor uns ein Auto aus Washington. "Vote!", sagte der Aufkleber auf dem Rückfenster.

Craziness, Love, Peace

Der nächste Morgen präsentierte sich in einem tiefblauen Himmel ohne Wolken. Wir packten die Campingstühle aus, Johan kochte Eggs und Baked Beans. Aus den Tiefen des RVs unseres Nachbarn kletterte ein Mann aus San Francisco, der, bekleidet mit nur einem Bärenfell-Lendenschurz, uns zur Begrüßung, einen nach dem anderen, herzlich umarmte. Er wünschte uns "Craziness, Love and Peace" und machte sich auf zum Communal Washing Workshop. Wenn man von ihm auf Woodstock schließen konnte, haben wir vielleicht nicht allzu viel verpasst. Dann packten wir unsere Drahtesel mit Wasser und Bier, vergaßen nicht auf die Masken, um uns, wie verabredet, mit Josh und Craig zu treffen.

Black Rock City war in einem Halbkreis nach dem typischen Rastersystem aufgebaut. Die Straßen, gemäß dem diesjährigen Thema "American Dream" mit Namen wie "Hummer" getauft, verliefen im Uhrzeigersinn von eins bis zwölf. Zusammen radelten wir weiter hinaus auf die Playa, auf der es fantasievolle Kunstwerke zu entdecken gab: feuerspeiende Blechdrachen, ein Memorial-Tempel, in dem Johan seinen Hochzeitsanzug symbolisch zur Verbrennung hinterließ oder eine Telefonzelle mit der Aufschrift "Say Hello to God". In Tränen aufgelöst, erklärte eine Frau, wie sehr sie Gott liebte. Voller Neugierde wartete ich auf meinen Versuch, 003 zu wählen. Tatsächlich, jemand antwortete. Gott war eine Frau, die fragte, warum das überraschte.

Kinder waren erlaubt

Wir besuchten die unzähligen Bars in den verschiedenen Camps, die ab Mittag zur Happy Hour riefen, aber die Drinks gratis verteilten. In den meisten Fällen. Annelie und Mike konnten der schmerzhaften Versuchung "a spank for a drink" nicht widerstehen. Gemeinsam ließen wir uns in ein hedonistisches Treiben und Träumen fallen. In eine ideale Gesellschaft, in der man mit Geld nichts kaufen konnte - außer Eis für die Kühlbox - und in der Fremde sich einfach umarmten. Niemand fragte nach dem Warum. Zeit existierte nicht.

Man stolperte über keine weggeworfenen Dosen oder Zigarettenstummel. Kinder waren erlaubt, Hunde nicht. Man konnte sich unterhalten lassen oder sich selbst als Teilnehmer an Weddings oder "Vacuum-Clean-the-Desert"-Workshops unterhalten. Für "Girls only" gab es den "Annual Critical Tits Bike Ride" und für Frühaufsteher einen Gratisflug mit einem der Sportflugzeuge, die auf einer improvisierten Startbahn in Richtung Wüstensonne abhoben.

Spottbild der Frivolität

Am Abend glich die temporäre Stadt einer Parodie von Las Vegas, einem Spottbild der Frivolität und Dekadenz. Überdimensionale Badeenten mit Laser-Augen und Partybusse, auf denen man ausgelassen tanzte, mit fluoreszierendem Fell überzogen, schaukelten durch die Nacht. Musik renommierter DJs vermischte sich aus allen Himmelsrichtungen. Wir schlossen weitere Bekanntschaften - mit einem aus dem Gefängnis entlassenen Musiker aus Idaho, der mit seiner Freundin drei Jahre zuvor einen Frisörladen überfallen hatte.

Vor zwanzig Jahren, als sich der ursprüngliche Event einer brennenden Statue zur Sonnwendfeier am Baker Beach in San Francisco so großer Beliebtheit erfreute, dass es die Aufmerksamkeit der Behörden weckte, wurde alles in die Wüste verlegt. Damals, erzählte uns ein Veteran, ging es noch zu wie im Wilden Westen. Leute rasten mit Autos, einige schossen mit Feuerwaffen durch die Gegend. Nun sei alles kommerziell geworden. Schwer zu glauben inmitten eines Szenarios, das an Priscilla und Mad Max erinnerte. Eines Nachts entdeckten wir auf einem Streifzug den daraus entliehenen Thunderdome, wo sich auch Frauen, in Elastikbänder geschnallt, über den Boden schwebend, mit Gummiknüppeln "liebkosten". Nicht zu vergessen jener Typ, der sein Bemühen am stillen Örtchen den Wartenden draußen durch ein Megafon mitteilte.

Am letzten Abend versammelten sich die 50.000 Einwohner um den in der Stadtmitte aufgebauten Mann. Einige Demonstranten forderten auf ihren Bannern "Don't Kill the Man". Wenig später hauchte dieser durch die Zündung eines pyrotechnischen Feuerwerks sein Leben in bunten Funken aus. Doch der American Dream lebt weiter, eingebettet in der Hyperrealität von Black Rock City. Baudrillard hätte sich bestimmt zu Hause gefühlt. (DER STANDARD-Printausgabe, 10./11. Jänner 2009)