Israel hat ein Recht auf Selbstverteidigung. Israel hat aber auch eine Pflicht zur Selbstkritik. Wirkliche Selbstreflexion kann aber nur eine Erkenntnis bringen: Noch keine demokratische, an den Menschenrechten und der Humanität orientierte Gesellschaft hat einen Krieg gegen eine Guerilla gewonnen. Denn man muss diesen Krieg gleichzeitig auch gegen die Bevölkerung führen. Man kann einen Krieg gegen eine Guerilla gewinnen – aber nur um den Preis schwerster Kriegsverbrechen. Das klassische Beispiel der letzten Zeit ist der Krieg in der russischen Provinz Tschetschenien.

Die dortige (islamische) Unabhängigkeitsbewegung wurde besiegt. Der Preis: 160.000 von einer Million Tschetschenen sind umgekommen. Die Hauptstadt Grosny wurde praktisch vollständig zerstört. Folter, Vergewaltigung, Verschleppung durch die russische Armee waren an der Tagesordnung. So, nur so, kann eine reguläre Armee eine Befreiungsbewegung besiegen – durch ungebremsten Terror gegen die Zivilbevölkerung. Putins Russland war dazu bereit und imstande. Hingegen haben Frankreich in Algerien, Großbritannien in Kenia, die USA in Vietnam verloren. Auch sie haben in diesen Ländern Kriegsverbrechen begangen – aber ihre Gesellschaften waren immer noch demokratisch und humanitär genug, um den Schritt zur alleräußersten Brutalität nicht zu tun. Auch die Sowjetunion Gorbatschows war nicht mehr brutal genug, um den Krieg in Afghanistan zu gewinnen. Die Nato kann übrigens den jetzigen Krieg in Afghanistan auch nicht mehr gewinnen. Der Gegner ist zwar äußerst brutal gegenüber dem eigenen Volk, hat aber dort trotzdem einen gewissen Rückhalt.

Meist macht es ja für das Ergebnis keinen Unterschied, ob die Befreiungsbewegung ihrerseits undemokratisch und/oder terroristisch ist. Notfalls wiegt der Widerstand gegen die fremden „Besatzer“ schwerer als die Verbrechen der „Eigenen“. Das gilt für die Taliban wie für die Hamas.

Der Kampf der israelischen Armee gegen die Hamas (und davor gegen die Hisbollah und davor gegen die PLO/Fatah) ist ein Krieg einer konventionellen Streitmacht gegen Gruppen von irregulären Kämpfern, die militärisch weit unterlegen sind, aber inmitten der Zivilbevölkerung operieren. Die Grenzen zwischen Terrorismus und Guerilla verschwimmen – die Hamas etwa erklärt ausdrücklich Zivilpersonen und auch Kinder als „legitime Ziele“ von Attentaten. Aber Gaza war von 1967 bis 2005 israelisch besetzt, die Israelis kontrollieren auch heute noch alle Grenzen, den Luftraum usw. Es handelt sich also auch um einen Befreiungskampf – selbst wenn das Ziel der Hamas ja weiter gesteckt ist, nämlich die Errichtung einer islamischen Diktatur auf dem Gebiet des heutigen Israel.

Israels Kriegsziel, die Hamas dauerhaft „auszuschalten“, ist unerreichbar – oder nur um den Preis des totalen Terrors gegen die Zivilbevölkerung. Diesen Weg kann Israel nicht gehen und wird ihn nicht gehen. Was soll es aber dann tun? Die Antwort ist unendlich schwer, kann aber nur in eine Richtung gehen: das Leben der palästinensischen Bevölkerung endlich lebenswert zu machen. (Hans Rauscher, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 10./11.1.2009)