Iain Banks: "Die Sphären"

Broschiert, 797 Seiten, € 16,50, Heyne 2008.

Liest man den Rückseiten- und den Klappentext zu "Die Sphären", drängt sich einem der Eindruck auf, es mit zwei vollkommen verschiedenen Büchern zu tun zu haben, eines davon Hard SF und das andere Fantasy. Die einfache Lösung liegt darin, dass "Matter" (so der in seiner Mehrdeutigkeit passendere Originaltitel des Romans) der neuste Beitrag zu Iain Banks' "Kultur"-Zyklus ist - und das ist ein Hintergrund, dem die zivilisatorische Vielfalt von Anfang an eingebaut wurde.

Vorkenntnisse sind nicht notwendig, aus dem 24(!) seitigen Glossar am Romanende können sich auch NeueinsteigerInnen den Hintergrund erschließen - hier aber ein kurzer Abriss: Die Kultur ist die weit über die Milchstraße verstreute Gesellschaft der Menschen, ein anarchistisches Utopia, in dem Geld, Herrschaft und Krankheiten unbekannt ist, Freizeit den Normalzustand darstellt und dank vollendeter technischer Möglichkeiten völlige Selbstdarstellungsfreiheit ermöglicht wurde: Sei es, dass man das Geschlecht wechseln will oder sich - wie eine der Nebenfiguren in den "Sphären" - der Umwelt als sprechender Busch präsentiert. Menschen und künstliche Intelligenzen leben gleichberechtigt nebeneinander, hier etwa die Spezialagentin Djan Seriy Anaplian und die Roboter-Drohne Turminder Xuss. Und dass die beiden überhaupt so etwas wie einen Beruf ausüben, drückt schon ihren seltenen Sonderstatus aus: Im Auftrag der Besonderen Umstände, einer Gruppierung, die knifflige Kontaktmissionen zu weniger entwickelten Zivilisationen durchführt, verschlägt es die beiden auf eine Schalenwelt - und zwar diejenige, auf der Djan Seriy einst geboren wurde.

Einsatzort ist Sursamen, eine von einstmals tausenden Schalenwelten, die vor einer Milliarde Jahre von einer Superzivilisation gebaut wurden. Ursprünglich könnten sie Feldprojektoren eines die gesamte Milchstraße umgebenden Schilds gewesen sein, längst sind die 45.000 Kilometer durchmessenden Welten aber ihrer Funktion beraubt. Statt dessen haben Immigranten aus allen möglichen Völkern die konzentrischen Schalen im Inneren der Hohlwelten besiedelt (Der reißerische Satz Die Habitate sind eine gigantische Falle für die menschliche Zivilisation auf der Buchrückseite ist übrigens komplett erfunden ...). Überwacht werden die Schalenwelten und ihre BewohnerInnen von verschiedensten Beteiligten: Hochentwickelten raumfahrenden Rassen, die zusammen mit der Kultur die galaktische Meta-Zivilisation ausmachen. Dabei bilden sie - ausgehend von ihrem Entwicklungsstand - eine Kette einander übergeordneter Instanzen, die der Interspezies-Hierarchie in David Brins "Uplift"-Romanen ähnelt.

Die eigentliche Handlung entspinnt sich entlang der Abenteuer dreier Halbgeschwister aus dem quasi-mittelalterlichen Volk der (menschlichen) Sarl, welche eine der Ebenen Sursamens besiedeln: Ferbin, ein eingebildeter Nichtsnutz-Prinz, der zum Zeugen der Ermordung seines Vaters wird und zusammen mit seinem klugen Diener Holse von seiner Heimatebene flüchten muss. Oramen, der zum Prinzregenten ernannt wird und zum Opfer politischer Intrigen prädestiniert scheint, sich aber zusehends vom Träumer zum selbstbestimmten Akteur mausert. Und schließlich Djan Seriy, die als Halbwüchsige im Zuge eines Tauschgeschäfts an die Kultur abgegeben wurde und nun gleichsam als Superwesen zurückkehrt. Banks versteht es sehr gut, den Kontrast der Kulturen zu zeigen: Auf der einen Seite die kriegerischen Sarl, die in einem fort hochtrabende Worte über Ehre, Anstand und Zukunftsvisionen absondern, während ihnen das Blut von den Fingern tropft. Und auf der anderen Seite die technisch und moralisch überlegene Kultur: Die gibt sich zwar mit Wonne ihren kindischen Zügen hin. Aber sie läuft.

Angereichert sind die Odysseen der drei ProtagonistInnen mit Anfällen von Banks' schrägem Humor, bei denen er gelegentlich auch etwas über die Stränge schlägt: Sei es dass die Drohne Turminder Xuss Djan Seriy als Dildo getarnt begleitet, seien es die Allüren der autonomen Raumschiffe der Kultur. Als Körper der Gehirne, der höchsten Intelligenzen innerhalb der Kultur, reisen sie nach eigenem Ermessen durchs Universum und schmücken sich mit absurden Namen wie Leicht Angebraten Auf Dem Realitätsgrill oder Es Ist Meine Party Und Ich Singe Wenn Ich Will, was nicht nur Djan Seriy an den Nerven zerrt. LeserInnen des "Kultur"-Zyklus sind derartige Seltsamkeiten allerdings längst vertraut.

"Die Sphären" ist - verglichen etwa mit "Einsatz der Waffen" oder "Bedenke Phlebas" - sicher nicht der herausragendste Roman aus dem "Kultur"-Zyklus, aber immer noch ein grellbuntes Abenteuer voller intelligenter Seitenhiebe. Der Schluss, der ebenso schnell wie unerwartet daherkommt, dürfte den einen oder die andere vergrätzen - passt aber in Kombination mit den politischen Aspekten des Epilogs (nach dem Glossar angehängt!) perfekt in die Philosophie eines Autors, der so etwas wie die Kultur überhaupt erst erfinden konnte.

Coverfoto: Heyne

David Marusek: "Getting To Know You"

Broschiert, 288 Seiten, Del Rey 2008.

Eine aufregende neue Stimme in der Science Fiction ... ach, auf Englisch klingt das in Rezensionen gerne verwendete "An exciting new voice ..." irgendwie besser. Auf jeden Fall ist der in Alaska beheimatete David Marusek, der seine Geschichten am liebsten in hohen nördlichen Breitengraden ansiedelt, eine solche Stimme. Und eine hierzulande noch kaum gehörte obendrein: Übersetzungen ins Deutsche gibt es noch nicht, und vorerst dürften wohl auch keine kommen. Zwei Romane gibt es seit 2007 bereits - erstaunlich eigentlich, bekennt Marusek im Vorwort zur Kurzgeschichtensammlung "Getting To Know You" doch, wie lange er zum Schreiben braucht. Die Fundamente der in den Romanen "Counting Heads" und "Mind Over Ship" beschriebenen Zukünfte hat Marusek bereits in den hier versammelten Geschichten aus den Jahren 1993 bis 2007 gelegt, sie bieten also den idealen Einstieg ins Werk eines großartigen Autors.

Da wäre zum Beispiel die Novelle "The Wedding Album": Die Frischvermählten Anne und Benjamin schwelgen im Glück, müssen allerdings bald erfahren, dass sie keine Menschen sind, sondern Simulationen. Und zwar keine simplen Hologramme, sondern für die Ewigkeit festgehaltene Momentaufnahmen ihrer Originale, inklusive Gefühlen und allen Erinnerungen bis zum Augenblick ihrer Erstellung. Ihr Status ist ihnen bekannt, "sie selbst" haben schließlich zu früheren Zeitpunkten solche Simulationen angefertigt. Sie wissen auch, dass sie jederzeit per reset aller neu hinzukommenden Eindrücke (wenn reale Menschen sie im 3-D-Hochzeitsalbum "besuchen") beraubt oder überhaupt gelöscht werden können - beeinflussen können sie es nicht. Does the refrigerator get a say? wird Anne vorgehalten, als sie Einwände vorbringt. Zu ihrem Leidwesen wird sie noch dazu weder das Dauerlächeln noch das unterschwellige schwipsige Glücksgefühl ihres Aufnahmemoments los - auch dann nicht, als die reale Ehe längst gescheitert und ihr Original dem Wahnsinn verfallen ist. Und auch dann nicht, als in der Außenwelt ein gesellschaftlicher Paradigmenwechsel eintritt: Künstlichen Persönlichkeiten - also auch ihr und allen später erstellten Anne-Simulationen - werden Bürgerrechte zuerkannt. 300 thousand trillion KIs folgen dem Ruf nach Simopolis, die irdische Ökonomie zerbricht an der Überlastung ... und damit ist die Geschichte noch immer nicht zu Ende. Doch Anne muss sich weiter durch die Jahrtausende lächeln. Selten wurde Transhumanismus so melancholisch und zugleich poetisch beschrieben.

Neben seinem luziden Stil, der Fähigkeit glaubhafte Charaktere zu entwerfen und die Konsequenzen technischer Entwicklungen weiterzudenken spielt Marusek damit eine weitere Stärke aus: die menschliche Seite der voranschreitenden Technik-Revolution zu beschreiben. Eine Geschichte mit dem schönen Titel "Cabbages And Kale Or: How We Downsized North America" schildert, wie es in den 2030ern zum Beschluss kam, die menschliche Fortpflanzung zu verbieten. Verjüngungstechnologien machen Vermehrung obsolet - doch hat der vermeintlich vernünftige Procreation Ban eine soziale Schieflage: Unter- und Mittelschicht lässt die Regierung einfach aussterben, übrig bleibt das land of the few and the competent. 30 Jahre später erlebt die wohlhabende Zoranna in der Titelgeschichte "Getting To Know You" die Folgen am Schicksal ihrer verarmten Schwester: die war erst Grundschullehrerin, später Sterbebegleiterin in einem virtuellen Hospiz - und verlor nach dem ersten Kundenkreis schließlich auch den zweiten, nachdem die einstige Bevölkerungspyramide zu existieren aufhörte. Wer sich das ewige Leben leisten will, sollte aber besser auch vonnutzen sein, sonst lautet die kühle Frage: "Must society carry your dead weight through the centuries?"

Noch einmal 30 Jahre später freuen sich Designer Sam und die hochrangige Regierungsbeamtin Eleanor in "We Were Out Of Our Minds With Joy" darüber, dass sie für eine retroconception zugelassen wurden: Sie dürfen ein illegal gezeugtes Baby, das als chassis eingelagert wurde, mit ihrer DNA überschreiben und als ihr Kind aufziehen. Die von nanotechnologischen nasties verseuchte Natur außerhalb ihrer manikürten Welt macht ihnen jedoch einen Strich durch die Rechnung: Sam wird infiziert und muss protokollgemäß seared (also "versengt) werden: Seine DNA ist nun gesperrt, jedes von seinem Körper abgesonderte Partikel wird automatisch vernichtet - während er sich die Augenbrauen auszupft und melancholisch betrachtet, wie jedes Härchen in einer winzigen Stichflamme vergeht, brütet Sam über seine kurz gewordene Zukunft nach. - "We Were Out Of Our Minds With Joy" ist ein Exzerpt aus dem Roman "Counting Heads", der in dieser Rubrik beizeiten noch rezensiert werden wird.

"Getting To Know You" enthält aber auch Geschichten, die nichts mit obiger Zeitlinie zu tun haben und in denen Maruseks Sinn für Humor durchkommt. In "Yurek Rutz. Yurek Rutz. Yurek Rutz" etwa erhält ein SF-Autor den Auftrag, die Grabinschrift für jemanden zu verfassen, der seinen Kopf im Permafrost Alaskas einfrieren lassen will - der Autor löst die Aufgabe auf eine Weise, in der Marusek die Grenzen zwischen erzählter und realer Welt aufhebt und auch gleich noch seinen Verleger Gardner Dozois mit hineinzieht. Und das nur dreiseitige "My Morning Glory", von Marusek als seine jolliest story beschrieben, hat durchaus gruselige Seiten: Erwacht der Ich-Erzähler, rundum von auf ihn abgestimmten Programmen eingelullt, doch in My Apartment, um sich auf My Channel die guten Nachrichten des Tages anzuhören, ehe er My Filter Mask anlegt, um sich draußen My Annual Evaluation zu stellen.

David Marusek: Eine ausdrückliche, nachdrückliche, große Empfehlung!

Coverfoto: Del Rey

Siegfried Langer: "Alles bleibt anders"

Broschiert, 241 Seiten, € 13,30, Atlantis 2008.

Eben noch war's eine Berlin-typische türkische Picknickszene im Park, und zack: In einem Wimpernschlag ist sie weg und der Protagonist findet sich mit Gedächtnisverlust und einem mysteriösen Medaillon um den Hals in einer völlig anderen Umgebung wieder. Und die überrascht nicht nur ihn, sondern auch den Leser: Denn während auf dem Cover Albert Speers Große Halle prangt und im Klappentext von einem Dritten Reich, das das Jahr 1945 überlebt hat die Rede ist, sieht's hier doch ganz anders aus. Und irgendwie beschaulich noch dazu: Zwar ist alles in gotischen Lettern beschriftet, doch hat man von Hakenkreuzen und Hitler noch nie etwas gehört. Auf dem Friedhof finden sich jüdische Gräber ganz selbstverständlich neben christlichen und in den Straßen ziehen Droschken und Pferdestraßenbahnen an Kolonialwarenläden vorbei. Man wähnt sich im wilhelminischen Deutschland, doch heißt der aktuelle Kaiser Georg Friedrich und das Radio verkündet die Nachrichten vom 25. Mai 2008 ...

Als der Protagonist neben seinem Namen - Frank Miller - auch noch den Umstand erfährt, dass er eigentlich vor ein paar Jahren gestorben ist, verharrt "Alles bleibt anders" - und das ist eine gute Sache! - vorübergehend in einem völligen Schwebezustand, in welchem Genre wir uns eigentlich befinden und wie es weitergehen wird. Der Folgeabschnitt wird dann aber ein Drittes Reich einführen, das 1945 tatsächlich überlebt hat, das Computer und Mobiltelefone kennt und eine bemannte Mission zum Mars vorbereitet. Und auch hier ist ein Frank Miller unterwegs: Zunächst zum Physikstudium nach Oxford im okkupierten Angelsachsen, später in deutlich heiklerer Mission.

Der "Endsieg" des Dritten Reichs dürfte wohl das beliebteste Thema für Alternativweltromane überhaupt sein. Er bildete die ganz unterschiedlich weiterentwickelte Ausgangsidee für Klassiker wie Philip K. Dicks "The Man in the High Castle" ("Das Orakel vom Berge") oder Otto Basils "Wenn das der Führer wüsste", Robert Harris' 1994 verfilmten Roman "Fatherland" oder Fred Allhoffs 1940 veröffentlichten Fortsetzungsroman "Lightning in the Night": literarisch gesehen ein trashiges Propaganda-Werk, aus zeitgeschichtlichen Gründen allerdings sehr interessant (1984 bei Heyne unter dem Titel "Blitzkrieg. Die Nazi-Invasion in Amerika" erschienen).

Unter all diesen Stimmen einen eigenen Zugang zu finden ist nicht gerade einfach - Siegfried Langer gelingt es aber. Der aus dem Allgäu stammende und mittlerweile in Berlin lebende Autor legt einen spannenden Debütroman vor, der mehrfach mit Schauplatz- und Handlungswechseln überrascht. Eines der Highlights ist die Schilderung eines besonders bizarr geratenen müllstrotzenden Berlins, in dem Frauen mit Kopftüchern und Jugendliche mit Irokesenfrisuren auf den Straßen unterwegs sind und wo die Straßenreinigung den für Langers supergermanisch erzogene Sliders unverständlichen Slogan "We kehr for you" am Overall trägt. Welch seltsame Verläufe die Geschichte doch nehmen könnte ...

"Alles bleibt anders" erinnert von seiner Anlage her am ehesten noch an Stephen Frys "Making History" - wenn es auch von anderen Voraussetzungen ausgeht und zunächst einmal auf "Surfing History" setzt. Eine bange Frage freilich bleibt am Ende offen: Wie bereit sind in einem bestimmten System aufgewachsene Menschen wirklich, dieses an der Wurzel zu ändern? Oder anders gefragt: Wer von uns würde in die Zeitmaschine steigen und den europäischen Kolonialismus der vergangenen Jahrhunderte verhindern, um so vielleicht ein paar hundert Millionen Menschen vor der Verelendung zu bewahren? Das darf dann jeder für sich selbst beantworten.

Coverfoto: Atlantis

Greg Keyes: "Das verborgene Reich"

Broschiert, 538 Seiten, € 9,20, Blanvalet 2009.

Irrealer wird's in der Parallelwelt, die Greg Keyes für sein opulentes Epos "Der Bund der Alchemisten" ("The Age of Unreason") nun zum dritten Mal ansteuert - und das, obwohl Wissenschaft hier die heimliche Hauptrolle spielt. Wohlgemerkt: Nicht unsere Wissenschaft, sondern deren alchemistische Stiefschwester, an deren Tauglichkeit selbst Größen wie Isaac Newton noch glaubten. Bei uns haben sich die phantastischen Ideen vom "Äther" und seiner Beherrschung als nicht der Wirklichkeit entsprechend erwiesen. In dieser Welt funktionieren sie jedoch bestens.

Zehn Jahre sind seit Teil 2 vergangen - und wer den (bzw. Teil 1) nicht gelesen hat, der wird sich vermutlich kaum noch zurecht finden ... außerdem verläuft für diejenigen hier die Spoiler-Grenze. Einfacher ist die Welt der 1730er Jahre nämlich nicht geworden, die Konfliktlinien schälen sich jedoch immer deutlicher heraus und erreichen die globale Ebene: Die Republik Venedig ist der letzte Restposten an Selbstbestimmung in Europa, den übrigen Kontinent haben sich Russland und das Osmanische Reich untereinander aufgeteilt. Und speziell den Zaren scheint es nach mehr zu dürsten: Kontakte nach China wurden geknüpft, und Nordamerika sieht sich gar Eindringlingen von beiden Küstenlinien her ausgesetzt: Im Osten landet der britische Thronprätendent James Stuart, der in unserer Welt als "Old Pretender" bekannt geworden und machtpolitisch glücklos geblieben ist. Hier jedoch macht er - mit Hilfe russischer Logistik und Militärstärke - beträchtliche Fortschritte darin, die nordamerikanischen Kolonien zu seinem neuen Königreich umzugestalten. - Und von der Westküste her ziehen die Eisenmenschen heran, deren Kern zentralasiatische Steppenvölker bilden. Die weltweite Klimakatastrophe nach der Verwüstung Englands hat die hungernden Nomaden zur Bedrohung werden lassen - per russisch-chinesischem Pakt wurden sie kurzerhand nach Nordamerika transferiert. Andere haben sich ihnen unterwegs angeschlossen, und nun marodiert eine bunt zusammmengesetzte Invasionsarmee über die Prärie.

Wie gehabt befinden sich die bisherigen ProtagonistInnen an den Brennpunkten des Geschehens: Der junge Choctaw-Schamane Red Shoes kundschaftet das Vordringen der Eisenmenschen aus und Benjamin Franklin stellt sich mit seinen Getreuen dem Neo-König entgegen, um die junge nordamerikanische Demokratie zu verteidigen. - Die französische Adelige Adrienne de Montchevreuil wiederum ist mit ihrer Position am Zarenhof zunehmend unglücklich. Ihre Entwicklungen wie das U-Boot oder das Ezechielrad für den Stratosphärenflug haben dem russischen Imperium zu seiner Vormachtstellung verholfen (und die Romanwelt auf einen technischen Entwicklungsstand gehievt, der der entsprechenden Epoche unserer Vergangenheit um zwei Jahrhunderte vorauseilt). Allmählich wird ihr jedoch die Anerkennung versagt - und Adrienne muss erkennen, dass sie betrogen wurde: Längst sind es nicht mehr die Menschen selbst, die die Entwicklung der alchemistischen Wissenschaft vorantreiben. Die Malakim, die Bewohner des Äthers, steuern das Geschehen immer direkter - und sich nur noch deren Kräfte zu bedienen, ist selbst für die BewohnerInnen von Keyes' alchemistisch aufgebauter Welt keine Wissenschaft mehr, sondern bloß noch Magie.

Eroberungskriege der Menschen untereinander und ein sich abzeichnender Vernichtungskrieg der Malakim gegen die Menschheit an sich bilden den actiongeladenen Hintergrund, aus dem sich ein Themenkreis so deutlich herausschält wie noch nie: Aufklärung versus gezielte Verdummung, Herrschaft durch das Volk versus "gottgewollte" Monarchie: Nicht umsonst bekommt Voltaire leuchtende Augen, wenn die - zeitlich vorgezogene - Unabhängigkeitserklärung der amerikanischen Kolonien abgefasst wird, und nicht umsonst setzt Benjamin Franklin dem König von eigenen Gnaden ein Bündnis aus Kolonisten, amerikanischen Ureinwohnern und entflohenen Sklaven entgegen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - zwei 18. Jahrhunderte, eine Parole.

... und so steuert alles auf ein großes Finale zu: Der Abschlussband "Die Schatten Gottes" erscheint im Mai.

Coverfoto: Blanvalet

Mark Del Franco: "Unschöne Dinge"

Broschiert, 373 Seiten, € 10,30, Otherworld 2008.

Und ein drittes Mal alternative Geschichte - wenngleich hier das weichenstellende Ereignis, die Konvergenz im Jahre 1900, nur den Hebel bildet, mit dem der Bostoner Autor Mark Del Franco seinen Debütroman (im Original: "Unshapely Things") in die Urban Fantasy transferiert. In der Konvergenz verschmolz die Welt der Menschen mit der der Feien: Keltischen wie Elfen, Pixies und Druiden einerseits und germanischen wie Alben und Zwergen andererseits. Sie alle fanden sich in einem beginnenden 20. Jahrhundert wieder, das anschließend einen durchaus ähnlichen Verlauf nahm wie "unseres" ... mögen die Feienvölker auch ihren Teil zum Zweiten Weltkrieg und anderen kritischen Phasen der Geschichte beigetragen haben. In der Roman-Gegenwart sind sie - mal besser, mal schlechter - integriert: beliebt in England und Irland, eher am Rande der Gesellschaft in den USA.

... wie in Boston, wo die Neo-Bürger im Weird ein Stadtviertel bevölkern, das mit der menschlichen Außenwelt nur wenig gemein hat. Als einige männliche Elfenprostituierte (Anmerkung: elves heißen im Original die teutonischen Alben, die Elfen der deutschsprachigen Ausgabe hingegen sind - Achtung Doppelbedeutung - fairies) ermordet werden, tritt Ermittler Connor Grey auf den Plan. Connor nimmt im Völkergemisch des Weird eine Mittlerrolle ein, wenn auch unfreiwillig. Als Druide verfügte er einst über Feiengaben, verlor diese jedoch in einem Kampf, an dem mit einem Ring der Macht und einem Atomreaktor zwei große Kräfte beider Welten beteiligt waren. Nun zum mehr oder weniger gewöhnlichen Mensch reduziert, kann er nicht länger der Wächtergilde angehören, die im Auftrag der in Irland residierenden Hochkönigin Maeve - für Connor die Obermackerin in Tara - Konflikte zwischen Menschen und Feien auszuräumen versucht. Um einen Fall zu lösen, an dem sich niemand anderer die Finger dreckig machen will, ist Connor jedoch der richtige Mann. Unterstützung erhält er von Leo, seinem menschlichen Partner bei der Bostoner Polizei, dem extravaganten Pixie Stinkwort alias "Joe" und der Hexe Briallen - andere hingegen werfen ihm, während der Fall immer weitere Kreise zieht, Knüppel zwischen die Beine. Und nicht zuletzt die Rolle der Wächtergilde selbst wird zunehmend undurchsichtiger.

"Unschöne Dinge" ist eine gelungene Hommage an klassische Detektivgeschichten der Série noire - mit allen Elementen, die dazugehören: Einem schmuddeligen, in Kaffee badenden Ermittler, der seine Umwelt sarkastisch analysiert. Mit gestrandeten Existenzen und schmierigen Informanten in nächtlichen Seitengassen. Mit politischen Intrigen, die die Ermittlungen behindern, und Vorgesetzten, die ihre eigene Agenda fahren. Mit einer Karriere-Beamtin, die einst mit Connor ein Verhältnis hatte und ihm nun verächtlich vor Augen führt, wie tief er seitdem gesunken ist. Und mit einer schrullig-patenten Polizei-Archivarin, die sich mit Connor witzige Schlagabtäusche in verbalem Tennis liefert.

Den Hintergrund liefert das mühsame Ringen um gegenseitigen Respekt und den Erhalt einer in Sachen Gender und Ethnizität multikulturellen Gesellschaft. Del Franco macht seine Botschaft klar, ohne dabei aufdringlich zu werden: Am Rande erwähnte Anekdoten - wie die vom Elf, der vor Gericht das Recht erstreitet in der Baseball-Liga mitzuspielen, oder die von der päpstlichen Enzyklika, in der erklärt wird, man habe nichts gegen Feien, solange sie's nicht ausleben (...) - zeigen auf lockere Weise, worum es geht. "Unschöne Dinge": Ein lesenswertes Debüt mit Potenzial zur Serie. Mittlerweile ist in den USA mit "Unquiet Dreams" ein weiterer Connor Grey-Roman erschienen, mit "Unfallen Dead" folgt in Bälde ein dritter.

Coverfoto: Otherworld

Brandon Mull: "Fabelheim"

Gebundene Ausgabe, 347 Seiten, € 17,50, Penhaligon 2009.

Gleich mit dem ersten Roman einen einträglichen Erfolg zu landen ist bei weitem nicht jedem Schreiber in der Phantastik vergönnt, US-Autor Brandon Mull hat 2006 mit "Fablehaven" aber offensichtlich einen Nerv getroffen. Und zumindest wer zuhause eine Tochter hat, die sich gerade in der Feen-Phase befindet, wird bestätigen, dass das entsprechende Interesse enorm ist.

Die Geschichte setzt sich - ganz im Stil von "Narnia" und Co - mit einem Ortswechsel in Gang: Die dreizehnjährige Kendra und ihr elfjähriger Bruder Seth werden für ein paar Wochen bei ihren Großeltern geparkt, weil sich Eltern, Onkel und Tanten aufgrund einer eigenartigen Testamentsbestimmung auf gemeinsame Familienkreuzfahrt begeben müssen. Nur Oma und Opa Sørensen, von jeher das Eremitenpaar des Clans, sind auf ihrem abgeschiedenen Landsitz im Nordosten der USA geblieben und müssen sich nun nolens volens um die Kinder kümmern. Dieser Landsitz erweist sich zunächst als ausgesprochen abweisender Ort: Hinter dem ersten Zaun gehen die Warnschilder über die ganze Skala von Betreten verboten bis Ab hier lauert der sichere Tod, und Seth und Kendra erhalten jede Menge Verbote auferlegt - unter anderem dürfen sie wegen "Borreliose-Gefahr" auf keinen Fall in den angrenzenden Wald gehen.

Doch wie es sich für ein Märchen gehört, werden Schlösser und Briefe geöffnet, verbotene Orte aufgesucht und gefangene Dinge entfesselt. Denn Fabelheim ist in Wahrheit Teil eines Netzwerks von Schutzreservaten für magische Kreaturen - und was da im Weltklassegarten der Sørensens zu Myriaden herumschwirrt, sind nur für das ungeübte Auge Schmetterlinge, Kolibiris und Libellen. Die eigentlichen Bewohner Fabelheims sehen noch wesentlich bunter aus - genauso wie dessen Feinde, denen sich Kinder und Großeltern stellen müssen, um einiges finsterer sind als Jäger und Umweltzerstörer.

Mull versteht es geschickt, die in Fabelheim versammelten Märchenwesen nicht als harm- und hilflose Geschöpfe des Grundguten darzustellen. Sie gehorchen nicht den moralischen Maßstäben der Menschen, leben in einer ewigen Gegenwart und interessieren sich ausschließlich für ihre eigenen Freuden und Bedürfnisse, bleiben dem Menschen fremd und können ihm mitunter auch ausgesprochen gefährlich werden - und trotzdem ist es wichtig sie zu schützen. Keine schlechte Moral für eine All-Age Fantasy-Geschichte.

Coverfoto: Penhaligon

Daniele Nadir: "Das dritte Testament"

Broschiert, 875 Seiten, € 12,40, Goldmann 2008.

Hier mal ein Buch allen ans Herz gelegt, die sich nicht gerne über Subgenre-Grenzen (speziell die brisante zwischen Science Fiction und allem anderen) wagen - ganz einfach deshalb, weil es sich bei "Das dritte Testament" des Italieners Daniele Nadir um einen in jeder Beziehung phantastischen Roman handelt. Der deutsche Titel ist übrigens irreführend, "Lo stagno di fuoco" heißt der Roman im Original: benannt nach der gängigsten Bezeichnung der Hölle durch ihre BewohnerInnen, der Feuerteich.

Am 27. Juni 2016 geht die Welt unter. Immerhin hat Gott die Güte, rechtzeitig die ultimative SMS auszuschicken und die Apokalypse unter Ausnutzung aller Kommunikationskanäle 24 Stunden im Vorhinein anzukündigen, damit jeder seine Sachen ins Reine bringen kann. Dann aber ist es soweit: Die Lebenden und die Toten werden gerichtet und Gott rauscht mit der kleinen Zahl der Auserwählten für immer davon. Der große Führer verabschiedet sich von Hauptdarstellern und Komparsen, wie Ex-Apostel Judas Iskariot es ausdrückt. Er ist einer der unzähligen Milliarden, die seit ihrem Tod in der Hölle schmachteten und fürs Jüngste Gericht noch einmal 24 Stunden an die Oberfläche durften, um dann endgültig in Satans Reich verbannt zu werden.

Ein paar hundert Menschen - unter ihnen die Lehrerin Sara Ferraris und der Schriftsteller Joe Gould - bleiben hingegen auf der leeren Erde zurück, sie waren weder gut noch böse genug für ein eindeutiges Urteil. Zu ihnen gesellen sich drei Engel, die schwere Fehler bei der Beurteilung "ihrer" Seelen begingen: Raziel, der Seraph Nephilim und der unnahbare Erzengel Michael höchstselbst. In der Hoffnung Gott "nachreisen" zu dürfen, beschließen sie in die Hölle hinabzusteigen und die drei falsch beurteilten Seelen zu retten. Sara und Joe begleiten sie, Judas gibt den ortskundigen Führer ab. Und wo bei anderen AutorInnen die Imagination wahrscheinlich enden würde, lässt Nadir seinen vielhundertseitigen phantasmagorischen Trip überhaupt erst beginnen.

Die Beschreibung der Hölle lässt unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten zu: Zum einen präsentiert sie sich vom Höllenbaum Saggin und seinen "tierischen" Bewohnern über den Limbus und die gigantische Stadt Neu-Dis bis zum Abgrund des Abbadon als vielgestaltiges Ökosystem, in dem menschliches Leid und menschliche Körperteile den grundlegendsten Bestandteil der Nahrungskette bilden. Und zugleich die einzige Rohstoffquelle, wie ein Scheiße-Bombardement auf das belagerte Neu-Dis anschaulich illustriert (eine Szene, für die Nadir Anleihen bei einer historischen Episode aus dem italienischen Mittelalter nahm). Die Hölle ist aber auch ein prekäres politisches Gebilde mit von Eminenzen regierten Reichen, einer Geschichte von Kriegen und Friedensverträgen - und jetzt einer alles auf den Kopf stellenden REVOLUTION!

Später im Roman wird der Aufbau der Hölle mit der Entwicklung des menschlichen Geistes bzw. Gehirns gleichgesetzt - eine weitere Möglichkeit der Deutung. Nadir versteht es ohnehin brillant, konkreten Abläufen eine metaphorische Bedeutung zu verleihen und umgekehrt Metaphorisches wie einen völlig normalen konkreten Vorgang zu beschreiben. Wenn Gott beispielsweise nicht nur Menschen und Engel, sondern auch Throne, Fürstentümer, Herrschaften und andere abstrakte Himmelsinstanzen aus der biblischen Mythologie richtet, beschwört dies einen ähnlich abgespacten Eindruck herauf wie der Ainulindale-Abschnitt im "Silmarillion". Und apropos Bezüge: Vergleichen lässt sich "Lo stagno di fuoco" mit nichts und vielem: Dantes "Göttliche Komödie" wird natürlich zitiert (und aktualisiert) - genauso nahe liegt aber auch die Blut- und Fleisch-Poesie Clive Barkers. Oder (siehe das höllische Sammelsurium körperlich unsterblicher Menschen aus allen Zeitaltern, darunter historische Figuren wie Joe Gould selbst): "Flusswelt".

... oder auch New Weird-Autoren wie Jeff VanderMeer oder Hal Duncan, löst Nadir doch ihnen gleich die Handlung in verschiedene Ebenen auf: Im Präsens wird erzählt, wie das himmlisch-irdische Einsatzkommando auf seinem Weg nach unten voranschreitet. Dazwischen schieben sich die im Imperfekt geschilderten Passagen von Joes "Höllengeschichten": So wie der historische Joe Gould im New York des frühen 20. Jahrhunderts mündlich überlieferte Erzählungen sammelte, so setzt es sein Roman-Pendant nun im "Feuerteich" fort. Auf einer dritten Ebene schließlich unterhalten sich einige Personen, deren Identität erst am Ende gelüftet wird, über die Ereignisse aus einer zukünftigen Perspektive heraus. - Dass für jede der drei Ebenen jeweils ein eigener Schriftsatz verwendet wird, der von den anderen gerade so weit abweicht, dass man den Wechsel unterbewusst registriert und dadurch kurz ins Stolpern gerät, ist übrigens das einzige Manko am "Dritten Testament"... aber man soll ja nicht kleinlich sein. Ein nicht nur wegen seiner Länge fordernder Roman, der den Leseaufwand aber mehr als nur lohnt. Bombastisch!

Coverfoto: Goldmann

Daniela Knor: "Nachtreiter"

Broschiert, 474 Seiten, € 17,40, Piper 2008.

Verschiebungen kennzeichnen den Roman, mit dem sich die Mainzer Autorin Daniela Knor aus ihren bisherigen Arbeiten für das "Schwarze Auge" gelöst hat, um eine eigenständige Welt zu erschaffen. Und zwar ereignen sich diese Verschiebungen in der Götter- und Geisterwelt ebenso wie zu ebener Erd', wo ganze Völker auf die Wanderschaft gezwungen werden, sowie in den Köpfen der ProtagonistInnen, wenn es um die Bewertung der Ereignisse und der Rollen, die sie darin spielen, geht. Und nicht zuletzt verschiebt sich auf der Erzählebene auch das Gleichgewicht zwischen den Hauptfiguren.

Dies sind zunächst Braninn und Grachann, zwei junge Krieger aus dem von Nomadenstämmen bewohnten Land Phykadon. Als sich eine unnatürliche Finsternis über ihr Land legt, die das Vieh tötet und selbst die spirituelle Welt der Phykadonier bedroht, setzen die Stämme sich Richtung Westen in Bewegung: Dort liegt das in Städten und Burganlagen organisierte Land Sarmyn, und hier leben der wegen seiner provinziellen Herkunft unsichere Ritter Arion und seine Stiefschwester Sava, die sich einer arrangierten Heirat entzieht - nicht zuletzt weil sie Heilkräfte in sich spürt und ahnt, dass sie eine andere Rolle spielen könnte als die des edlen Fräuleins im goldenen Käfig. - Zwischen diesen Charakteren switcht "Nachtreiter" in auffallend kurzen Kapiteln hin und her: ein rascher Wechsel, der dem Roman beträchtliches Tempo verleiht.

Nach und nach erweist sich mit der Einführung weiterer Figuren und Schauplätze, dass die ProtagonistInnen bislang nur eine buchstäblich oberflächliche Kenntnis ihrer Heimat hatten. Nachdem, wie im Prolog geschildert, vor etwa 1.000 Jahren schon einmal eine Dunkelheit über die Lande zog und wieder verschwand, konnten sich die Menschen in der vermeintlichen Gewissheit einer bodenständigen Weltsicht wiegen: Magische Praktiken sind weitestgehend unbekannt, religiöse Kulte in Vergessenheit geraten, man spricht vom Toten Gott. Unter der Oberfläche ist aber noch viel mehr aus der Alten Welt vorhanden, als die Beteiligten ahnen ... und irgendjemand beginnt da kräftig umzurühren. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Ritter Regin zu, der sowohl von seinem intriganten Vater als auch einem geheimnisvollen Magier, der ihm in seinen Träumen erscheint, zur Machtergreifung angestachelt wird. Regin denkt aber nicht daran sich zur Marionette machen zu lassen, sondern hegt seine eigenen Pläne. Als Charakter ist er deutlich weniger vorhersagbar als die anderen und mausert sich von der anfänglichen Nebenerscheinung allmählich zur interessantesten Figur in "Nachtreiter".

Knor spielt mit einigen altvertrauten Motiven: Von der "Urangst" der sesshaften Europäer vor der Invasion der Reitervölker aus dem Osten bis zu Machtverschiebungen im Götterhimmel, die historisch-geografische Veränderungen auf der Erde widerspiegeln. Die verschiedenen Handlungsstränge erreichen naturgemäß einen Grad an Verästelung, der am Ende des Romans eine Reihe von Fragen offen lassen wird - doch die Fortsetzung "Sternenwächter" wird ja in Kürze bereits in den Regalen liegen.

Coverfoto: Piper

Matthew Hughes: "Majestrum"

Broschiert, 232 Seiten, Night Shade Books 2007.

Wir wechseln auf die interplanetare Ebene, trotzdem wird Magie hier eine wachsende Rolle spielen: Henghis Hapthorn muss es zu seinem Leidwesen am eigenen Leib erfahren. Der Protagonist in Matt Hughes' neuster, noch nicht ins Deutsche übersetzter, Romanserie ist der (zumindest seiner Einschätzung nach) renommierteste freelance discriminator der bekannten Galaxis. Ein privater Ermittler, der im Auftrag der superreichen Adeligen von Old Earth oder einer anderen der zehntausenden Welten im Spray heikle Aufträge übernimmt. Wir befinden uns einige hunderttausend oder vielleicht auch Millionen Jahre in der Zukunft, und die galaktische Zivilisation ist der von Iain Banks "Kultur" nicht unähnlich (außer dass sie Hierarchien sehr wohl kennt): Eine unbeschwerte säkulare Gesellschaft, in der unbedeutende religiöse Restposten in overwhelming numbers of cheerfully heathen neighbors untergehen. Hughes und Banks gehören eben beide noch der Autoren-Generation an, die das elende Comeback der Religionen für ihre Zukunftsentwürfe noch nicht auf dem Tapet hatte, aber das nur am Rande.

Henghis' aktueller Fall klingt einfach: Herausfinden, was der brandneue Lover von Lord Afres töchterlichem Mauerblümchen Chalivire zu verbergen hat. Etwas ziemlich Skurriles, wie sich herausstellen wird, aber der schnell gelöste Fall bildet nur den Einstieg in ein sehr viel größeres Geschehen. Denn Henghis, ein Mensch, der ausschließlich der Ratio verhaftet ist, muss zähneknirschend zur Kenntnis nehmen, dass wieder einmal ein "Großer Zyklus" zu Ende geht. Wie es im Lauf der Jahrmillionen schon des öfteren geschehen ist, macht sich das Universum daran, seinen Source Code zu ändern und von wissenschaftlich erklärbarer Kausalität auf sympathetic association umzustellen. Kurz gesagt: auf Magie.

Die ersten Auswirkungen hat Henghis bereits zu spüren bekommen: Seine vormals unterbewusste Intuition hat sich in seinem Kopf als eigenständige Persona manifestiert - noch dazu eine, die im kommenden Zeitalter, wenn Rationalität bestenfalls noch eine zweitrangige Tugend ist, das Zepter in die Hand nehmen wird. Und Henghis' vormaliges Kommunikations-Tool, der integrator, hat sich in ein flauschiges Pelztier verwandelt, das ihn nun als familiar begleitet wie eine Katze die Hexe ... soferne es nicht gerade schnarchend unter Möbelstücken herumliegt oder sündteure Früchte frisst, die es dank seiner unverändert vorhandenen Vernetzungsfähigkeit selbst ordern kann. Vor Sarkasmus sprühende Wortduelle zwischen dem ultradistinguierten Henghis, seiner auf Emanzipation pochenden Alternativ-Persönlichkeit und dem eigensinnigen integrator nehmen in "Majestrum" breiten Raum ein und bilden das eigentliche Kernstück des Romans. Dazu kommen skurrile Einfälle wie Häftlinge, die zur Strafe als Mitglieder eines Straßenzirkus dem öffentlichen Spott ausgesetzt werden, Aristokraten, deren hochgezüchtete neuronale Netze nur noch Menschen mit den erforderlichen Statussymbolen wahrnehmen können, oder Henghis' Jagd nach einer Melodie, die ihn auf eine Art galaktische Lollapalooza-Tour führt - wohin er ähnlich gut passt wie Lotte Tobisch auf ein Motörhead-Konzert.

Der Weg ist das Ziel: Hughes setzt auf trockenen Humor, geschliffenen Stil und verbale Gefechte als eigentliches Hauptelement der Handlung, um das Lesen Seite für Seite zum Vergnügen zu machen. Fans der Science Fantasy von Jack Vance, Randall Garretts "Lord Darcy" oder Lois McMaster Bujolds "Miles Vorkosigan" können sich nun mit einem weiteren gewitzten Ermittler zu exotischen Schauplätzen begeben. Und wer auf den Geschmack gekommen ist: Mit "The Spiral Labyrinth" und "Hespira" sind mittlerweile zwei weitere Henghis Hapthorn-Romane erschienen.

Coverfoto: Night Shade Books

Armin Rößler & Heidrun Jänchen (Hrsg.): "Lotus-Effekt"

Broschiert, 215 Seiten, € 10,95, Wurdack 2008.

Zum Abschluss noch etwas, auf das es sich immer einen Blick zu werfen lohnt: Nämlich den Output des Wurdack Verlags, welcher regelmäßig das Wagnis eingeht Anthologien herauzugeben - etwas, vor dem die großen Häuser zurückschrecken wie Vampire vor einem Kreuz aus Knoblauchzehen. 19 Kurzgeschichten deutscher und österreichischer AutorInnen sind in "Lotus-Effekt" enthalten, durchweg um die zehn Seiten kurz und eine große Bandbreite an SF-Themen abdeckend.

Dreckig ausgetragene Konflikte schildern gleich mehrere Erzählungen: "Entschlossen" von Christian Weis wirft Schlaglichter auf eine brutalisierte Nahzukunft, in der die UNO in Hongkong sitzt und Protagonist Kozak und seine Brainchip-ausgerüsteten Sondereinheiten mit sozialem Elend und  Ghetto-Aufständen konfrontiert werden. Weitergesponnen bis zur Wiederverwertbarkeit von Menschen ist der HighTech-Krieg in Niklas Peineckes "Die Ernte fällt heut' aus", außerirdische Robot-Kolonien stellen hier den zähen Gegner. Und in der Titelgeschichte "Lotus-Effekt" von Christian Günther arbeitet Rho als Amnesier: Ganz normal kommt er jeden Tag von seinem Job nach Hause, ohne sich daran erinnern zu können, von welchem ... fragmentarische Erinnerungen an Geschützlärm und verwüstete Städte geben einen Hinweis auf sein Tagwerk.

Gedächtnismanipulation kommt auch in Sebastian Riegers "Nichts wie der Himmel" und Bernhard Schneiders "Lapsus" vor. Eine unerwarete Wendung nimmt "Decoi Vult" von Uwe Post, das als Geschichte eines Patentstreits über Augenimplantate beginnt und schließlich in die Frage mündet, ob der Protagonist eine größere Realität erkennt oder Wahnvorstellungen erliegt. Noch desillusionierender Thomas Wawerkas "Wir könnten Kolumbus fragen", in dem Pioniere auf Ganymed nur noch lästiges menschliches Beiwerk einer durchorganisierten Operation darstellen; sogar den ersehnten Erstkontakt versaut das System den als Sicherheitsrisiko eingestuften Menschen. Und bitterböse schließlich "Der Traum vom Fliegen" von Lutz Herrmann, einer zynischen Geschichte aus der künftigen Altenrepublik und ihrem Umgang mit den nicht mehr Gebrauchten.

Anlagen zu Größerem (sprich: das Potenzial zum Roman) zeigen Karla Schmidt und Karsten Kruschel: Schmidt schildert in "Weg mit Stella Maris" den Konflikt zwischen Malin und ihrer Mutter, die mit einem Generationenschiff ins All aufbricht: Live übertragen in einer Doku-Soap, während Malin sich damit befassen muss, dass immer mehr Tiere von einem mysteriösen Korkenziehereffekt verdreht tot aufgefunden werden; da stecken genug Ideen für ein Langformat drin. Kruschels "Barnabas" wiederum könnte der Auftakt zu einem großen Science Fantasy-Roman sein: Außenweltler deponieren einen gefährlichen Mechanismus auf einem Planeten, der Magie kennt ... und ein Novize setzt das Ding unbeabsichtigt in Gang. Teil eines größeren Kontextes ist auf jeden Fall die Söldner-Geschichte "Das Gespinst" von Wurdack-Herausgeber Armin Rößler, fügt es sich doch in dessen mittlerweile drei Romane umfassenden "Argona"-Zyklus ein. Und sehr gut schließlich auch die Erzählung "Ein Geschäft wie jedes andere" von Rößlers Mitherausgeberin Heidrun Jänchen: Irgendwann kurz nach der Ära des Wohlfahrtsstaats sucht Sigo nach unheilbar Kranken, die sich keine Behandlung leisten können, und bietet ihnen zwei Jahre Leben in Wohlstand an - danach müssen sie reichen Abnehmern eine Körperspende leisten. Sigo, selbst in schweren Finanznöten, gerät durch seine aktuelle "Kundin" in moralische Konflikte - und das Ganze steuert auf eine böse Lösung hinaus ...

Zum Glück kommt aber auch der Humor nicht zu kurz: Thomas Hocke gewinnt in "Ein Phager wird trainiert" der Biotechnologie endlich auch mal komische Seiten ab, Olaf Trint lässt in "Schnully" eine Sex-Androidin und einen gigantischen Kugelfisch entscheidende Rollen in einem Mordfall spielen. Und Arno Endler beweist in "Strafmaßnahme" Sinn für skurrilen Humor und eine dem Format Kurzgeschichte adäquate Idee: Verkehrssünder Christian wird dazu verdonnert in einem Auto zu fahren, das von einer KI überwacht wird - und die treibt ihn durch ihre Gouvernantenhaftigkeit langsam aber sicher in den Wahnsinn.

Die nächste Rundschau ist für den 21. März geplant, um sich langsam wieder dem Monatsmitte-Rhythmus anzunähern. Voraussichtliche Stationen der Lesereise werden die Margarets vom Mars und die Schweizer Sowjetrepublik sein. (Josefson)

Coverfoto: Wurdack