Surrealistisch" findet man in der EU-Kommission, was sich im Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine abspielt. Ja, es mag surrealistisch erscheinen, wenn fast 20 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer mittel- und osteuropäische Regierungschefs Bittgänge nach Moskau absolvieren, damit ihre Bürger nicht länger frieren müssen. Was empfindet wohl ein Wladimir Putin dabei, für den das Verschwinden der Sowjetunion bekanntlich eine der größten Katastrophen der Menschheitsgeschichte ist?

Was surrealistisch anmutet, hat indes ganz banal-reale Grundlagen, die man vielleicht auch einmal in Brüssel und den anderen europäischen Hauptstädten zur Ausgangsbasis eines strategischen, also langfristigen Konzepts gegenüber Russland nehmen wird.

Halten wir der Fairness halber noch einmal Moskaus offizielle Begründung für das Abdrehen des Gashahnes fest: Die Ukraine stiehlt Gas, begleicht ihre alten Schulden nicht und will die geforderten höheren Preise nicht zahlen. Das stimmt vermutlich im Großen und Ganzen, gilt aber ähnlich für ein anderes Transitland für russisches Gas: Weißrussland. Dort allerdings gibt es keine Demokratie und keine prowestliche Regierung, sondern einen autokratischen Herrscher, der Moskau keine Schwierigkeiten macht.

Das entschuldigt freilich nicht das Verhalten der führenden prowestlichen Politiker der Ukraine. Präsident Viktor Juschtschenko und Premierministerin Julia Timoschenko leisten sich schon seit Jahren einen Privatkrieg auf dem Rücken der Bevölkerung. Der hat zu einer innenpolitischen Dauerblockade geführt und die schwere Wirtschaftskrise mitverursacht, weil notwendige Reformen ausbleiben. Zudem fördert die Blockade die ohnehin grassierende Korruption noch mehr.

In einem Jahr gibt es Präsidentschaftswahlen, und Timoschenko setzt alles daran, Juschtschenko abzulösen. Dieser ist, auch wegen seines unpopulären Pro-Nato-Kurses, in jüngsten Umfragen auf ein Popularitätstief von nicht einmal mehr drei Prozent abgesackt. Timoschenko sieht ihre Chancen steigen, weiß aber, dass sie für einen Wahlsieg auch Stimmen aus dem prorussischen Lager braucht. Das wiederum weiß man auch in Moskau und setzt darauf, dass Timoschenko im Zweifelsfall nicht gegen russische Interessen entscheidet.

Vor diesem Hintergrund ist Gas der ideale Stoff, mit dem Politik gemacht werden kann. Über die Ukraine laufen 80 Prozent des russischen Gasexports nach Europa. Die Transitpipelines aber stehen unter voller ukrainischer Kontrolle. Der staatliche Konzern Naftogas, der sie betreibt, kommt für schätzungsweise zehn Prozent des ukrainischen Budgets auf. Das erklärt, warum sich Kiew so verbissen gegen den Versuch Moskaus wehrt, zumindest eine Teilkontrolle des Transits zu erlangen.

Dazu stehen die meisten ukrainischen Spitzenpolitiker in irgendeiner Weise mit dem Gasgeschäft in Verbindung, vorsichtig ausgedrückt. Auch das erleichtert Moskau die Einflussnahme. Timoschenko selbst trägt von ihrer früheren Tätigkeit in der Branche den Spitznamen Gasprinzessin.

Die Abhängigkeit Europas von russischem Gas und ukrainischem Transit hat beide Seiten dazu verführt, ihr Match über die EU-Bande zu spielen. Es ist pure Chuzpe, wenn Putin jetzt sagt, Kiew erpresse Europa. Moskau tut dasselbe - mit dem rein zufälligen Begleiteffekt, dass jenen Westlern, die ihm seine "natürliche" Einflusszone streitig machen wollen, nach Georgien eine weitere Lektion erteilt wird, diesmal eben mit Gas statt mit Panzern.

Im Gefühl tiefer Ohnmacht und im Bewusstsein, mit schuld daran zu sein, mag man das in der EU surrealistisch nennen. Damit die Wohnzimmer warm bleiben, muss man sich wohl ein bisschen mehr einfallen lassen.