Victor Papanek, "Design für die Reale Welt. Anleitungen für eine humane Ökologie und sozialen Wandel", Übersetzung: Elisabeth Frank-Großebner.Reihe: Edition Angewandte, € 39,95/ 424 Seiten, Springer, Wien/New York, 2008.

 

 

 

"Als sozial und moralisch engagierte Designer müssen wir uns mit den Bedürfnissen einer Welt auseinandersetzen, die mit dem Rücken zur Wand steht, während die Uhr immer eine Minute vor 12 zeigt."  (Victor Papanek, 1971)

 

 

Springer

Vor knapp 40 Jahren wurden folgende Passagen von einem Mann zu Papier gebracht, der behauptete, es gäbe zwar Berufsgruppen, die mehr Schaden anrichteten als Designer - aber viele seien es nicht:

"Es ist ein Zeichen unserer Zeit, dass erwachsene Menschen sich hinsetzen und ernsthaft elektrische Haarbürsten, strassbesetzte Schuhlöffel und Nerzteppichböden für Badezimmer entwerfen, um dann komplizierte Strategien auszuarbeiten, wie man diese erzeugen und an Millionen Menschen verkaufen kann."

Sehr viel scheint sich auf diesem Gebiet also innerhalb der vergangenen vier Jahrzehnte nicht geändert zu haben. Doch es geht noch weiter: "In einer Umwelt, die visuell, physisch und chemisch vermurkst ist, wäre es der größte Gefallen, den die Architekten, Industriedesigner, Planer usw. der Menschheit tun könnten, wenn sie einfach zu arbeiten aufhörten." Das Buch, dessen Vorwort diese erstaunlich angriffslustigen Passagen entnommen sind, erschien erstmals 1970 und gilt heute noch als eines der einflussreichsten Bücher, die je über Design geschrieben wurden. Über ein Planen, Bauen, Konstruieren, Designen wohlgemerkt, das stets den Menschen in seinem sozialen, ökonomischen und ökologischen Umfeld zum Mittelpunkt hat, ein Design, das nachgerade selbst aktiv Verantwortung für Mensch und Umwelt übernimmt, und zwar gleichrangig für Erste wie Dritte Welt.

In "Design for the Real World" malte der Architekt und Designer Papanek in kräftigen Farben seine Vision vom vernünftigen Umgang mit Produkten und Bauten: "Design muss zum innovativen, kreativen und interdisziplinären Instrument werden, das den wahren Bedürfnissen der Menschen gerecht wird. Es muss sich mehr an der Forschung orientieren, und wir dürfen unseren Planeten nicht länger mit schlecht gestalteten Objekten und Bauten verschandeln." Und - derzeit aktueller denn je: "Wir haben gelernt, große Autos als Benzinfresser zu betrachten; auf ähnliche Weise gilt es nun, unsere Häuser als die Raumfresser zu sehen, die sie sind." (aus dem Vorwort zur Ausgabe 1984)

Eine deutsche Fassung dieses Opus, das mittlerweile mehrere Generationen von Architektur- und Designstudenten begleitet hat, hatte es zwar zu Beginn der 70er- Jahre gegeben, doch zum einen war die längst vergriffen, zum anderen war Papanek selbst mit der damaligen Übersetzung nie einverstanden gewesen.

Jetzt, zehn Jahre nach seinem Tod im Jänner 1999, liegt die von ihm noch teils akkordierte Neuübersetzung vor. Verantwortlich dafür sind Florian Pumhösl, Thomas Geisler, Martina Fineder und Gerald Bast, also eine hochkarätige Truppe der Universität für angewandte Kunst.

Man darf sich dafür bedanken - zumal dem Folianten nicht zuletzt "eine biografische Annäherung an eine unbekannte Kultfigur" beigefügt ist, sowie eine angemessen kritische Auseinandersetzung mit Papanek und dessen Thesen.
Die Herausgeber überprüfen quasi den Zeitlosigkeitsgehalt der papanekschen Aussagen und kommen, wie Martina Fineder beispielsweise, zu dem Schluss: "Im Designbereich erfährt Design for the Real World, und somit Victor Papanek, ja fast automatisch seine Aktualisierung, weil die großen Problemgebiete, die er anspricht, heute präsenter sind denn je, vor allem medial."

Angewandte-Rektor Gerald Bast sieht nicht zuletzt die Verantwortung all jener Ausbildungsstätten durch Papaneks Schrift angesprochen, die Architekten und Designer hervorbringen: "Er stellte sowohl als Lehrer als auch als Designer in bewundernswerter Konsequenz immer wieder die Kardinalfrage: Worin liegt der Beitrag des Designs und der DesignerInnen im Wettbewerb der Ideen für die Zukunft unserer Gesellschaft?" Im vorliegenden Buch sind dafür eine Fülle von Beispielen angeführt.

Der berühmteste Entwurf Papaneks, gemeinsam mit einem Studenten entwickelt, ist sicherlich sein Radioempfänger für die Dritte Welt: Den konnte jeder, der wusste, wie es funktioniert, selbst aus einer mit Paraffin gefüllten Getränkedose, einer handgemachten Antenne, einem Nagel, einer Tunneldiode und einem "Ohrstöpsel" zusammenbauen. Kostenpunkt 1966: Etwa neun Cent.

Da Papanek kein Schreiber, sondern ein Diktierer war, ist sein Ausdruck von brachialer Vitalität. Das Buch ist also kein diszipliniert-wissenschaftliches Werk, sondern die mit Energie und Überzeugung quasi hinausgesungene Botschaft: Lasst uns, verdammt nocheinmal, gründlich nachdenken, bevor wir Ressourcen verschwenden, bevor wir sündig teuren, gleichwohl schlecht funktionierenden angeberischen Schwachsinn produzieren, und denken wir, bitte, darüber nach, wie wir die Lebensumstände mehrerer Milliarden Menschen in den Drittweltländern durch Innovation, Design, Architektur schnell, preisgünstig, sinnvoll verbessern können.

Victor Papanek wurde 1923 in Wien geboren und emigrierte als 15-Jähriger mit seiner Mutter nach New York. Er studierte Kunst und Architektur an der Cooper Union, arbeitete ab den späten 40er-Jahren bei Frank Lloyd Wright in Taliesin, verlegte sich ab Mitte der 50er-Jahre auf "Engineering & Product Design" am MIT. Er lehrte an Universitäten weltweit, wurde für seine angriffige Designkritik von der Industrial Designers Society of America erst ausgeschlossen, später zum "guiding light" rehabilitiert. In Österreich hätte er immer gern gelehrt. Dazu ist es bedauerlicherweise nicht mehr gekommen. (Ute Woltron / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17./18.1.2009)