Daniel Kehlmann, "Ruhm" . € 19,40 / 210 Seiten. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2009

 

 

Rowohlt

Das Leben schreibt keine Geschichten, und Ruhm ist nicht planbar. Aber wer weiß, vielleicht stimmt es wirklich, dass, wie Ludwig Hohl auf die Macht der Literatur anspielend, einmal schrieb, verloren ist, wer nicht zaubern kann. Angefangen hat nämlich alles mit dem Roman über einen Zauberer. Als der damals 22-jährige Daniel Kehlmann 1997 im Wiener Deuticke Verlag mit Beerholms Vorstellung, einem Buch über einen Magier, dem Fiktion und Realität durcheinandergeraten, debütierte, passierte zunächst einmal nichts. Wie ein Stein, so Kehlmann, sei das Buch untergegangen, resonanzlos.

Schon ein Jahr später, Kehlmann hatte inzwischen sein Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft mit einer Arbeit über "Schillers Theorie der Entfremdung" abgeschlossen, versuchten es Kehlmann und der Deuticke Verlag wieder, diesmal mit der Erzählsammlung Unter der Sonne. Und es geschah - nichts. Dasselbe Schicksal teilten, obwohl im Suhrkamp-Verlag erschienen, der Roman Mahlers Zeit (1999) und die Novelle Der fernste Ort (2001). "Wichtigkeit ist nicht wichtig, malen ist wichtig" , heißt es dann in Kehlmanns drittem Roman Ich und Kaminski, den Kehlmann 2003 unbeirrt herausbrachte. Es geht darin um einen von keinerlei Selbstzweifel angekränkelten Journalisten und einen Maler, den er zu biografieren trachtet. Nachdem Reich-Ranicki in Frau Elkes Fernsehsendung das Buch lebhaft gelobt hatte, verkaufte es sich 30.000-mal. Und dann, dann erschien nach einem weiteren Verlagswechsel zu Rowohlt der Roman Die Vermessung der Welt über Alexander von Humboldt, Carl Friedrich Gauß und den deutschen Nationalcharakter.

Jetzt passierte viel. Pötzlich mussten für den Autor, der jahrelang in fast leeren Bibliotheken und Literaturhäusern gelesen hatte, die großen Säle gebucht werden. Zudem stand Kehlmann mit einem Mal unter Genieverdacht, was er von sich weist, galt als größte Hoffnung der deutschsprachigen Literatur, was sich angedeutet hatte, aber auch als seichter Erfolgsschriftsteller, was nicht stimmt. Zweifellos beherrscht Kehlmann sein Handwerk, wenige verstehen es, Dialoge wie er zu schreiben, und die Konstruktion seiner zuweilen etwas kühl und glatt anmutenden Erzählungen und Romane ist makellos. Fast zu souverän erscheint einem manchmal dieser an der nord- und südamerikanischen Literatur geschulte, enorm belesene Autor, der drei Poetikdozenturen innehatte und nebenbei Artikel, Rezensionen, Essays verfasste.

Der argentinische Autor Jorge Luis Borges, der sich wie kein anderer mit der Frage, was Fiktion und was Realität ist, und ob es einen Unterschied zwischen ihnen gibt, auseinandersetzte, gehört wie Nabokov zu Kehlmanns Säulenheiligen. In einem Aufsatz über Borges schrieb Kehlmann, dass es in der Literatur um Perfektion gehe, "(...) also das Prinzip, dass jedes Gedicht, jede Geschichte, jeder Satz, dem es nicht gelingt, vollkommen zu sein, verzichtbar ist - und dass, da dies keinem Satz gelingt, die Literatur letztlich ein Spiel ist, müßig und ohne Dauer; dass sie als Spiel unternommen werden muss: mit ganzer Kraft aber ohne Ernst" . Zweifellos ist Kehlmann ein begnadeter literarischer Spieler, allerdings ein manchmal etwas zu kontrollierter, auf Perfektion bedachter, was seinen Büchern etwas Unheimliches verleihen kann. Nun, eine Vermessung der Welt, drei Jahre und zwei Millionen verkaufte Exemplare später liegt also seit gestern Kehlmanns neuer Roman Ruhm vor. Untertitel: Ein Roman in neun Geschichten. Wobei das kräftige Marketinggetöse des Rowohlt-Verlages lange vor Erscheinen des Romans einsetzte, so durfte Kehlmann etwa vorab in einem FAZ-Interview sein Werk gleich selbst deuten, auf das Publizieren von Rezensionen vor dem Erscheinungstermin stand eine Strafe von 250.000 Euro, und Lesungen wird es nur wenige und ausgesuchte geben.

Das Leben, ein Fragment

Neun Leben, oder die Fragmente davon, und neun Schicksale sind es, um die es in diesem auf den ersten Blick schmalen 200-Seiten- Roman geht. Da ist etwa der Action-Star Ralf Tanner, der, seines Ruhmes überdrüssig, ein anderer sein möchte, bis ihm im wahrsten Sinne des Wortes sein Leben abhandenkommt. Oder da ist die Geschichte von einem Mann, der daran zerbricht, an zwei verschiedenen Orten mit zwei Frauen jeweils ein Leben leben zu wollen. Oder es sind da, ganz wichtig, die drei Erzählungen über den larmoyanten, lebensuntüchtigen und misanthropischen Schriftsteller Leo Richter und Elisabeth, die für "Médecins sans frontières" arbeitet und fürchtet, dass Leo aus ihrer Liebesgeschichte eine literarische Geschichte macht. Weiters treffen wir auf den in seiner Daseinsöde versunkenen Blogger Mollwitz, der hofft, wenigstens im Netz für 15 Minuten berühmt zu werden, und einen Mann, dem eine falsche Telefonnummer ein virtuelles Leben beschert. Erzählt wird auch von einer Krimiautorin, die irgendwo, weit weg von der Heimat, verkommt, weil der Akku ihres Handys leer ist. Und dann wäre da noch die Geschichte von Miguel Auristos Blancos, einem global erfolgreichen brasilianischen Lebenshilfeschriftsteller, Esoterikbarden und Existenzexperten, dem wir in der Erzählung "Antwort an die Äbtissin" begegnen, während er, die geladene Pistole an seinem Kopf, in den Abgrund einer ständig gefährdeten Schöpfung, in eine Welt des Schmerzes und des Todes blickt.

Die neun Geschichten stehen jede für sich und sind doch alle miteinander verknüpft, gegenseitig tauchen die Figuren, die allesamt den Boden unter ihren Füßen schwanken spüren, die verloren sind, oder drohen, sich selbst zu verlieren, in der Geschichte einer jeweils anderen auf. Auch wenn nicht alle Geschichten gleich gut gelungen sind, ist es beeindruckend, wie Kehlmann seinen Stil den jeweiligen Charakteren anzupassen versteht und gleichsam nebenbei, mit leichter Hand, ein subtil geknüpftes Netz von Anspielungen, Begegnungen und Spiegelungen entwirft. Sowieso ist das Netz, die unsichtbare, geheimnisvolle Verbindung, vor allem das Internet und Handynetz, ein wichtiges Thema in diesem Buch, das auch die Folgen der dauernden Erreichbarkeit und somit der Ort- und Zeitlosigkeit behandelt.
Nietzsche schrieb einmal, das Schreibwerkzeug arbeite an unseren Gedanken und somit an unserer Realität mit. Kehlmann stellt in Ruhm die Frage, ob das nicht auch für die modernen Kommunikationsmittel gilt, die zweifellos die Möglichkeitsräume, auch des eigenen Lebens, erhöhen und es kontrollierbar und entgrenzt zugleich machen.

Hinter all dem steht wiederum die Frage, welche die Literatur, seit es sie gibt, beschäftigt: Was ist der Unterschied zwischen wahr und wirklich? Kästner antwortete: Wahr ist, was auch hätte sein können. Immer schon hat sich die Literatur mit dieser krankhaften Sehnsucht, dem Konjunktiv des Lebens, befasst und mit der Frage: "Was wäre wenn ...?" Was wäre, wenn Penelope nicht auf Odysseus gewartet hätte, was wäre, wenn der Richter selbst den Krug zerbrochen hätte? Was eine Geschichte sein kann, warum es Dinge gibt, über die man nicht reden kann, und warum etwas, das eine Geschichte findet, tröstlich ist, darüber schreibt Kehlmann in der gelungensten Geschichte "Rosalie geht sterben" , die vom letzten Gang einer Frau in ein Schweizer Sterbehilfezentrum handelt.

Alles scheint schlecht auszugehen, bis plötzlich der Autor Leo Richter, den der Leser aus einer anderen Geschichte des Romans kennt, neben der von ihm geschaffenen Figur Rosalie steht, die um Gnade, ein neues, ein längeres, ein nicht endendes Leben bittet. "Rosalie geht sterben" ist die Geschichte über eine Geschichte, die der Autor nicht schreiben kann. Und vielleicht geht es in dem Buch nicht nur um die verschiedenen Fiktionsebenen, in denen man sich als Leser unversehens wiederfindet, sondern auch darum, dass im Leben, wie in der Literatur, jeder Schritt Folgen hat, und doch immer ein Rest von Glück oder Pech, von Schicksal oder Zufall, von Unsagbarem und Geheimnis bleibt. Und der Ruhm? Auch er ist eine Fiktion, oder wie es Rilke sagte, die Summe der Missverständnisse, die sich um einen Namen sammeln. Wenn er die Wahl hätte, sagte Woody Allen einmal, würde er lieber in seinem New Yorker Apartment und nicht im Gedächtnis seiner Mitmenschen weiterleben. Ruhm, Kehlmanns neuer Roman, ist ein scheinbar leichtes Buch, das man nicht zu schnell lesen sollte, denn es wirft gewichtige Fragen auf. (Stefan Gmünder / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17./18.1.2009)