Wien - Die Verfahren heißen "Trapesnikowa gegen Russland", "Salatchanowa und Salatchanow gegen Russland" oder "Tagirowa und andere gegen Russland". 2008 war wieder einmal ein schlechtes Jahr für den russischen Staat beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.

Mehr als 60 Klagen tschetschenischer Bürger gegen Russland verhandelten die Richter in letzter Instanz, die Hälfte davon im vergangenen Jahr - so rechnet "Prague watchdog" vor, eines der Internetforen, das sich auf die politische Entwicklung im Nordkaukasus spezialisiert hat. Üblicherweise enden die Verfahren in Straßburg mit der Verurteilung zu Schadenersatzzahlungen in zwei- bis dreistelliger Höhe an die Tschetschenen. Die russischen Behörden zahlen in der Regel dann auch ohne größere Umstände, sagt Andreas Gross, ein Schweizer Sozialdemokrat und langjähriger Berichterstatter zu Tschetschenien im Europarat. Manche Richter in Russland sehen die Verhandlungen vor dem Europäischen Gerichtshof angeblich nicht ungern. Sie versprechen sich von der Serie der Verurteilungen langfristig Reformen und mehr Rechtsstaatlichkeit im eigenen Land, um die Schadenersatzzahlungen und den Imageschaden abzuwenden.

Für die Tschetschenen aber ist der Gang nach Straßburg meist die einzige Möglichkeit, um Recht und Wiedergutmachung zu erzwingen. Der am Dienstag in Wien erschossene Umar Israilow könnte für seine Klage beim Europäischen Gerichtshof aber mit seinem Leben bezahlt haben. Der 27-Jährige hatte gemeinsam mit seinem Vater über Folterpraktiken und Morde in Tschetschenien unter Präsident Ramsan Kadyrow ausgesagt.

Andere Tschetschenen erhielten erst nach dem gewaltsamen Tod ihrer Familienangehörigen Genug-tuung in Straßburg. Die Salatchanows wiederum verloren am Ende ihren Prozess gegen Russland: Ein russischer Soldat hatte ihren 15-jährigen Sohn Ayub auf dem Weg zur Schule erschossen. Der Vater fand den Mörder, ein russisches Gericht verurteilte schließlich den Soldaten zu zehn Jahren Haft. Die Eltern hätten nicht mehr den Status von Opfern, entschieden die Richter in Straßburg. (Markus Bernath/DER STANDARD, Printausgabe, 17./18.1.2009)