Bild nicht mehr verfügbar.

Foto:Archiv

Hätten Sie vermutet, dass ein Kofferfisch Ihnen jemals auf der Straße begegnen würde? Mercedes-Benz hat diese Utopie zur Wirklichkeit werden lassen. Entwicklungsingenieure des Stuttgarter Automobilkonzerns suchten nach bionischen Anregungen zur Entwicklung neuer Fahrzeuge, die – ohne Komforteinbuße und unter Nutzung konventioneller Anwendungstechnologien – treibstoffarm fahren sollten. Es ging zunächst um eine aeordynamisch ausgefeilte Formgestaltung für die Tiere mit geringem cW-Wert (Widerstandsbeiwert: je kleiner, desto besser die Strömungsanpassung) Anregungen geben sollten. Vom Eselspinguin über die Mehlschwalbe landeten die Ingenieure beim Kofferfisch, der dann auch für das Bionic Car Vorbild wurde. Die Abgussmodelle dieses Fisches führten nach Windkanalmessungen zu erstaunlich kleinen cW-Werten. Auf Basis der damaligen A-Klasse entstand der daraus resultierende Prototyp.

Werner Nachtigall legt mit seinem Buch "Bionik – Lernen von der Natur" einen kompakten Überblick über die aufstrebende Wissenschaft vor. Im ersten Teil werden die Begriffe technische Biologie und Bionik unter die Lupe genommen. Nachtigall legt dabei besonderen Wert darauf, dass Bionik nicht eine 1:1-Kopie der Natur ist, sondern "eine Übertragung der Erkenntnisse aus dem Naturstudium auf die Technik". Direkte Naturkopie könne nur in die Irre führen, so der emeritierte Professor für Zoologie der Universität des Saarlandes. So ist für ihn der berühmte Sony-Hund kein bionisches Wesen, da die Gestalt, die Bewegung und das Verhalten des Hundes mit technischen Mitteln nur so genau wie möglich nachgeahmt werden. Abstraktion des Prinzips und dessen technikgerechte Umsetzung fehlen dem Pionier der Bionik in diesem Zusammenhang.

Um die lange Geschichte der Bionik zu zeigen, werden drei Beispiele aus vergangenen Jahrhunderten angeführt. Das Berühmteste darunter sind die Schwingflügelstudien Leonardo da Vincis. "Sul volo degli uccelli", ein Traktat über den Vogelflug, im Jahre 1505 in Florenz verfasst. Es folgen vorklassische und klassische Beispiele: Schiffsrümpfe, die aus Fischkörpern abstrahiert wurden, die Anfänge des Stahlbetons, Stacheldraht, Salzstreuer sowie der Klettverschluss beziehen ihre Prinzipien alle aus der Natur.

Im wissenschaftlichen Teil des Buchs erfolgt eine Grobgliederung in Konstruktions-, Verfahrens-, und Entwicklungsbionik. Letztere nimmt sich die biologische Evolution als Vorbild: Mittels Zufallsprinzipien werden Mutationen an einem Produkt vorgenommen. Stellt sich die Veränderung als Verbesserung heraus, wird das neue Produkt weiter verändert. Falls die Mutation nicht zu den gewünschten Ergebnissen führt, wird das neue Produkt wieder verworfen und mit dem ursprünglichen weiter gearbeitet. Bei einer Düse für Zweiphasenströmung (flüssiges Natrium und Natriumdampf) konnte mit dieser Methode ein um etwa 40 Prozent besserer Wirkungsgrad erreicht werden. Im darauffolgenden praxisbezogenen Teil werden Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Wissenschaften und methodische Fragen behandelt.

Im Schlusskapitel versucht Nachtigall die Bionik als Denkansatz und Lebenshaltung zu implementieren. Das Zusammenführen von Biologie und Technik soll "den philosophischen Unterbau für ein natürliches Konstruieren liefern". Es werden zehn Grundprinzipien als eine Anleitung für dieses Ziel ausgeführt. Nachtigall ist von einem Miteinander von Natur und Technik in Zukunft überzeugt, findet aber verbindlich eingebundene ethische Leitlinien im Sinne einer neuen Moral dafür notwendig. "Das konstruktive und systemerhaltende Potential der belebten Welt" muss den künftigen Ingenieuren bereits in ihrer Ausbildung näher gebracht werden. Sein Fazit: "Es geht gar nicht so sehr um Konstruktion, Naturwissenschaft und Wirtschaft, wenn wir weiterkommen wollen. Vielmehr muss Ethik an der Basis eines Systemwandels stehen. Sie darf eben nicht nur a posteriori als Mäntelchen umgehängt werden." (lesa)