Wien/Jerusalem - Könnte der bekannte israelische Historiker Tom Segev Simon Wiesenthal etwas fragen, wäre es das: "Warum leben Sie ausgerechnet in Österreich? Und warum haben es die Österreicher verdient, dass da ein Holocaust-Überlebender, ein Jude, der erst in Linz und dann in Wien sitzt, sich so große Mühe gibt, ihnen eine bessere Gesellschaft zu gestalten?"

Seit vier Jahren sucht der Buchautor Antworten. Ende des Jahres soll seine Wiesenthal-Biografie erscheinen. Segev hat dafür Wiesenthals Privatarchiv indessen Büro in der Wiener Salztorgasse ausgewertet. Heute, Donnerstag, hält er den Festvortrag beim Festakt zum 100. Geburtstag des 2005 verstorbenen "Nazijägers" im Palais Niederösterreich.

"Er hat eine humanistische Auffassung des Holocaust vertreten. Wiesenthal interessierte sich für Verbrechen an anderen Gruppen, sowie für Verbrechen, Genozide, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschehen sind" , sagt Segev im Standard-Gespräch. Für den Biografen ist das seine bedeutendste Leistung: "Er hat viele Verbrecher vor Gericht gebracht. Aber ich glaube, die bleibende Bedeutung liegt darin, was er für die Erinnerung an den Holocaust getan hat."

Der Historiker hofft, dass das Wiener Wiesenthal-Institut, das im Jänner seine Tätigkeit aufnimmt, dessen Arbeit fortsetzt: "Es soll so breit wie möglich in der österreichischen Gesellschaft Resonanz finden, weder ein reines Forschungsinstitut, noch nur Archiv sein. Es muss soweit wie möglich in die Gesellschaft, in die Schulen, um Aktivitäten zu setzen."

Wie sich die Erinnerungskultur verändern werde, wenn es keine Überlebenden mehr gibt? "Sie wird sich noch vertiefen, in dem Sinn, dass der Holocaust alle Leute angeht und nicht nur die Überlebenden. Dass das keine persönliche, biografische Erfahrung von Überlebenden ist, sondern eine historische und moralische Erfahrung für die gesamte Menschheit."

"Kisten voll antisemitischer Schimpfbriefe", die Wiesenthal aus der ganzen Welt, auch aus Österreich, bekommen hat, beweisen, dass diese Sicht noch immer nicht allerorts geteilt wird. "Er hat sie alle aufgehoben", sagt Segev, "sie sind mit einem ,M‘ markiert. ,M‘ steht für ,meschugge‘."

Segev selbst will auf die politische Situation in Österreich nicht eingehen - nur so viel: "Es gibt in jedem Land einen gewissen Kern vonRechtsradikalen, auch in Israel, aber in Österreich ist er erschreckend stark. Ich bin nicht sicher, ob das direkt an die NS-Vergangenheit zu knüpfen ist. Vielleicht liegt es daran, dass nicht genug getan wurde, um solche Erscheinungen in das nationale Bewusstsein aufzunehmen, als etwas, das nicht geschehen darf", mutmaßt er.

Angesprochen auf Israel, versucht der Historiker die politische Lage mit einem abgewandelten Wiesenthal-Zitat zu beschreiben: "Es war mehr Rache als Gerechtigkeit." Die Situation nach dem Rückzug der Armee aus dem Gazastreifen habe sich nicht verändert. "Sie kann auch nicht anders werden, solange man nicht verhandelt. Und zwar mit dem, der die Macht hat, also der Hamas." Das seien zwar "keine sympathischen Kerle, aber ich sehe keinen anderen Ausweg" . Wie viele setzt auch er hohe Erwartungen in den neuen US-Präsidenten Barack Obama, wobei "noch nicht klar ist, in welche Richtung er eigentlich gehen will". (Peter Mayr, DER STANDARD, Printausgabe, 22.1.2009)