"Die Toleranz gegenüber Rechtsextremisten kennzeichnet die gesamte Geschichte der zweiten Republik", sagt der Rechtsextremismus-Experte Wolfgang Purtscheller. Deshalb werde es für die Mitarbeiter des dritten Nationalratspräsidenten Martin Graf, die bei einem Online-Versand einschlägiges Material bestellt haben sollen, auch keine Konsequenzen geben. Von der Koalition erwartet er sich diesbezüglich "nichts", diese würden mit einer 60-jährigen Tradition brechen, wenn sie gegen Graf und seine Mitarbeiter auftreten würden. Dabei wäre das gerade jetzt sinnvoll, denn in der Neonazi-Szene sei in den vergangenen zwei, drei Jahren "ein Reorganisationsprozess zu beobachten, wie das zum letzten Mal in den 80er Jahren der Fall war", so Purtscheller im Interview mit derStandard.at.

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derStandard.at: Seit ein paar Wochen gibt es den Konflikt um den dritten Nationalratspräsidenten Martin Graf. Seine parlamentarischen Mitarbeiter sollen Neonazi-Propaganda-Material im Internet bestellt haben. Haben Sie sich so etwas erwartet, als sie gehört haben, dass Graf dieses Amt bekleiden wird?

Purtscheller: Mich hat das nicht gewundert: wenn man den Graf nimmt, kriegt man die Olympia. Es ist ein Prinzip der Burschenschafter, dass man einen Lebensbund eingeht und sich gegenseitig unterstützt. Graf hat auch keine Möglichkeit, irgendwo anders seine Mitarbeiter herzunehmen. Das Milieu aus dem er schöpfen kann, ist relativ beschränkt. Er hat zudem kein besonderes Problem damit; bei Olympia sind solche Einstellungen, wie sie durch die Versandbestellungen offenkundig werden, üblich. Man darf nicht vergessen, dass die Burschenschaft Olympia in den 60er-Jahren in Bombenanschläge in Südtirol verwickelt war, oder dass einige Olympia-Mitglieder führend bei der Gründung der Nationaldemokratischen Partei, die später verboten worden ist, waren. Diese Kontinuitäten bestehen. So gesehen ist es eine Heuchelei wenn man jetzt sagt, die Mitarbeiter müssen weg. Es war ganz klar, dass so etwas passieren wird.

derStandard.at: Was wirft es für ein Licht auf Österreich?

Purtscheller: Das grundlegende Problem ist, dass die Toleranz gegenüber Rechtsextremisten die gesamte Geschichte der zweiten Republik kennzeichnet. Seit 1945 hat es niemals einen Schlussstrich gegeben, wie das in Deutschland der Fall war. Es ist immer wieder versucht worden, die ehemaligen Nationalsozialisten auf die eine oder andere Art zu integrieren.

derStandard.at: Was hat Österreich bei der Aufarbeitung anders gemacht als zum Beispiel Deutschland?

Purtscheller: Österreich wird immer noch als erstes Opfer des Nationalsozialismus dargestellt. Das erleichterte sehr vieles, man hat sich immer sehr leicht abputzen können. Auch spielt eine große Rolle, dass sämtliche Parteien versucht haben, das gigantische Potenzial an Nationalsozialisten - Österreich hat mit rund 688.000 Mitgliedern die größte NSDAP-Dichte im gesamten Dritten Reich gehabt - für sich selbst zu nutzen. Es hat niemals einen richtigen Bruch gegeben.

In Deutschland ist der Schlussstrich gezogen worden. Rechtsextremisten wurden und werden ausgegrenzt.  Bei uns gab es aber einen Wettlauf, ehemalige Nationalsozialisten einzubinden. Jede von den drei Parteien nach dem Krieg - SPÖ, ÖVP und KPÖ - hat eine eigene Organisation für Nationalsozialisten gehabt. Wenn sich ein Nazi einer der Parteien zugewendet hat, hat er sozusagen den Persilschein erhalten. In der Justiz war das besonders bezeichnend, dort sind dann dieselben Nazis gesessen wie vor 1945, zumindest zu 90 Prozent. Österreich ist also das Land, das den Nationalsozialismus nicht überwunden, sondern integriert hat.

Der Nationalsozialismus hat sich zudem in Österreich rentiert. Man darf nicht vergessen, dass die großen staatlichen Konzerne, wie die VOEST oder die steirischen Erzbergwerke, im Nationalsozialismus mit Zwangsarbeit geschaffen worden sind.

derStandard.at: Ist dieses integrative Element heute auch noch in den Köpfen der Österreicher verankert - zumindest unterbewusst?

Purtscheller: Ich glaube, dass das Unrechtsbewusstsein in Österreich nicht sehr groß ist. Ich habe das Gefühl, dass jede Art von nationalsozialistischer Betätigung als Mitläufertum dargestellt wird.

derStandard.at: Wie sollen SPÖ und ÖVP in der jetzigen Situation handeln?

Purtscheller: Ich erwarte mir gar nichts von den beiden Parteien. Das wäre der Bruch mit einer mehr als 60-jährigen Tradition. Es ist immer so passiert in der zweiten Republik und es wird so weitergehen. Rein von der Optik her wird es natürlich Forderungen an Graf geben, dass er sich von seinen Mitarbeitern trennt. Es wird Protestaktionen geben, aber grundsätzlich wird sich nichts ändern. Der Grundsatz lautet, dass man diesen Strömungen Toleranz walten lässt.

derStandard.at: Seitens der Politik hat man oft auch das Gefühl, rechtsextreme Tendenzen werden heruntergespielt, als würden sie ohnehin nur eine Minderheit betreffen.

Purtscheller: Die Politik sieht das so, aber das ist falsch. In Österreich sind in der Neonazi-Szene in den vergangenen zwei, drei Jahren ein Reorganisationsprozess und vor allem eine Stärkung zu beobachten, wie das zum letzten Mal in den 80er Jahren der Fall war.

derStandard.at: Wie drückt sich dieser Reorganisationsprozess aus?

Purtscheller: Offeneres Auftreten, mehr Provokation, stärkere Präsenz, mehr Dreistigkeit. Sicher ist das auch ein Reflex auf die rechtsextremen Wahlerfolge. 30 Prozent rechte Wähler sind wahnsinnig viel und sie fühlen sich bestärkt. Man braucht sich nur die großmäuligen Reden von Strache im Parlament anhören. Ich möchte Strache nicht unterstellen, dass er noch immer Neonazi ist, aber es ist klar, dass da ein enormes Selbstbewusstsein drinnen ist. Das wiederum reflektiert auf einen Straßenskinhead oder einen Kellernazi. Und die greifen das dann auf und denken: "Mir san mir." Das führt zu einem verstärkten Selbstbewusstsein.

Und es hat sich auch die FPÖ selbst geändert. Wenn man noch vor ein paar Jahren die FPÖ mit dem Begriff Neonazi in Verbindung gebracht hat, dann ist ein Aufschrei durch die Reihen gegangen. Mittlerweile ist das vollkommen normal. Der Salzburger Vorsitzende fährt zu den Republikanern, der Vilimsky schwimmt im Rhein bei Köln und regt sich über die antifaschistischen Demonstranten auf, der Mölzer macht internationale Rechtsextremisten-Treffen mit der deutschen NPD, die am Rande eines Verbots steht. Die FPÖ ist weit nach rechts gerutscht und geniert sich für die Neonazi-Kontakte nicht mehr.

Die Grenzziehung zwischen militanten Neonazismus und legalem Rechtsextremismus ist mittlerweile total verschwommen. Unter Jörg Haider war das wesentlich klarer - zumindest wurde damals versucht, den Eindruck zu erwecken, dass man mit Neonazis nichts zu tun hat.

derStandard.at: Ist es dem durchschnittlichen FPÖ-Wähler bewusst, wie sehr die FPÖ in die Nähe der Neonazis gerutscht ist?

Purtscheller: Ich halte es für einen Humbug zu sagen, dass die Wähler dieser Partei aus Protest ihre Stimme geben. Ich wohne in einem Arbeiterviertel, ich höre was die Leute reden und sie nehmen oft rassistische Positionen ein. Die Leute haben dieses wesentliche Element des Rechtsextremismus verinnerlicht. Die FPÖ tritt für harte Lösungen ein. Wenn ich Rassist bin, geh ich dann nicht zum Schmiedl, sondern zum Schmied und wähle die FPÖ. Das heißt aber nicht, dass das alle Neonazis sind.

derStandard.at: Wieviele Neonazis gibt es in Österreich? In welchen Bundesländern hauptsächlich?

Purtscheller: Prinzipiell kann man sagen, in jedem westeuropäischen Land gibt es ein neonazistisches Potenzial von zwei bis drei Prozent. In Österreich ist derzeit zum Beispiel in Tirol eine verstärkte Tendenz feststellbar. Dort gibt es auch große Überschneidungen zwischen dem RFJ und den Neonazis. Genauso in der Steiermark. Das größte Vakuum gibt es derzeit noch in Wien. Hier gibt es zwar Reorganisationsversuche auf mehreren Ebenen, aber auch Uneinigkeiten.

Insgesamt ist momentan eine starke Verjüngung der Basis zu bemerken, da sind jetzt Leute im Alter von 15 bis 20 aktiv. Die Neonazis sind zunehmend gewaltbereit und kommen nicht mehr wie früher nur aus dem proletarischen Milieu, sondern auch aus dem Mittelschul- und Studentenmilieu. Im Gegensatz zu den 80er Jahren spielen jetzt auch Burschenschafter eine wesentliche Rolle. Die Neonazis organisieren sich heute im Internet, da gibt es diverse Foren, aber auch reale Treffpunkte und Kaderschulungen.

derStandard.at: Erkennt man Neonazis auf der Straße?

Purtscheller: Teilweise nicht mehr, die Dresscodes haben sich stark verändert. Man versucht im Styling nicht dem zu entsprechen, was erwartet wird. Sicher gibt es noch die klassischen Skinheads, aber auch neue Strömung, die sich kleiden wie die linken Autonomen - mit schwarzen Kapuzenpullis und Palästinensertuch. Zu Skinheads hält sich ein "guter Nationalsozialist" auf Distanz: die saufen, sind laut. Bei Demonstrationen ist es gut, wenn ein paar dabei sind, aber für die permanente Parteiarbeit sind sie nicht so geeignet. (rwh, derStandard.at, 23.1.2009)