Zur Person:
Hans Höller ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Uni Salzburg. Zuletzt erschien von ihm bei Rowohlt eine Peter-Handke-Monografie.

Foto: Cremer

Am 6. August 1924, es war das Jahr seines fünfzigsten Geburtstags, kam Hugo von Hofmannsthal zur Sommerfrische im salzburgischen Bad Fusch an. Er blieb dort, wo er als Heranwachsender mit seinen Eltern viele Sommerwochen verbracht hatte, nicht viel länger als ein paar Tage. Um diesen Aufenthalt, der in der Erinnerung weit in das Leben des berühmten österreichischen Schriftstellers zurückführt, geht es in Walter Kappachers eben erschienenem Roman Der Fliegenpalast. Wenn ein Schriftsteller sich im Leben und Werk eines anderen spiegelt, liegt die Kunst darin, dass wir als Leser uns in dem vielfach gebrochenen Selbstentwurf angesprochen fühlen können und unser Erinnern und unsere Wahrnehmungsfähigkeit sich dabei erweitern. Kappachers erzähltes Bad Fusch, so verfallen und verschwunden es heute auch sein mag, liegt in uns allen.

Ein Ort der Unterbrechung, wo das Ich durchlässig wird für die Erfahrung des Scheiterns und Schwindens.

Äußerlich ereignet sich bei diesem Aufenthalt "in der Fusch" nichts Spektakuläres. Auf einer Wanderung erleidet Hofmannsthal eine Kreislaufschwäche, nicht ungewöhnlich bei einem alternden Mann und bei einer ungünstigen Wetterlage; zufällig kommt ein junger Arzt dazu, Dr. Krakauer; diese erste Begegnung und die folgenden Gespräche mit ihm lösen in Hofmannsthal eine tiefe Verwirrung der Gefühle aus. Der Arzt wird zeitlich von einer anstrengenden Baronin in Anspruch genommen, reist bald ab und alles verschwindet wie ein Nichts. Die letzten Sätze des Romans lauten: "Wie dumm von mir, dachte er. Es ist nichts."

Dr. Krakauer gehört zu den wenigen nicht mit der Hofmannsthal-Biografie belegbaren Personen in einem Roman, der für die Hofmannsthal-Kenner voll von Anspielungen stecken dürfte. Die Gespräche mit dem Arzt aber und die Briefe an ihn sind erfunden. Kappacher weiß, dass auch Hofmannsthal gern "Gespräche und Briefe" mit "großen Meistern" erfunden hat und "dutzende Entwürfe, Ideenskizzen" zu diesem Genre aufzeichnete.

Aber trotz dieser intimen Beziehung zu Hofmannsthals Leben und Werk und der erzählerischen Ironie, wenn davon abgewichen wird, ist der Roman viel mehr als ein Hofmannsthal-Roman für die Verehrergemeinde, auch wenn Kappacher ein selten genauer Hofmannsthal-Kenner ist und zu Recht die Chiffre H. verwendet. Nur ist eben diese Chiffre wie das K. bei Kafka nicht einfach nur ein Namenszeichen für Hofmannsthal. Man könnte sagen, mit dem H. sind auch wir als Lesende gemeint, unser Vorstellungsvermögen, unsere Lebensangst und das, was uns am Leben und lebendig hält.

Man braucht auch keinen Kuraufenthalt hinter sich gebracht zu haben, und wird doch die Erzählung der inneren und äußeren Mechanismen von Hofmannsthals Tagen in Bad Fusch wie etwas verfremdet Vertrautes lesen, das in jedem Alltag enthalten ist. Die Spazierwege führen in der Erinnerung zurück zu den Menschen, mit denen man hier gegangen ist, jede Ruhebank, auf der man sich niederlässt, erweckt ein beinah körperliches Eingedenken an ein früheres Ausruhen, und der Blick nimmt die Veränderungen durch die Zeit wahr, meistens als Verlust. Es ist der Blick des "Zurückgekehrten", eines der Lebens- und Werkmotive Hofmannsthals, die sich durch Kappachers Roman ziehen, die Rückkehr in eine fremdgewordene Welt, in der man sich nur mehr schwer zurecht findet. Es ist wie mit dem Ortsbild von Bad Fusch, das H. kaum wiedererkennt, und wie mit den alten Wegen, die zuwachsen oder nicht mehr aufzufinden sind: "Fünfundzwanzig Jahre her, fünfunddreißig, wer weiß, ob dieser Wald inzwischen nicht völlig zugewachsen war von den damals jungen Fichten und Tannen. Aber ebene Wege mußten es nun für ihn sein."

Das Bewusstsein des Alterns und der geschwächten Physis des Herzkranken geht in die Wahrnehmung der Landschaft ein, und ähnlich reflektieren sich alle Abläufe des Sommerfrischebetriebs im Medium eines von den Zumutungen der Welt angegriffenen Ichs, das schon erschrickt, wenn unter den neu ankommenden Gästen im "Grandhotel" sich nur die Andeutung eines bekannten Gesichts zeigt. Beinah alle seine Freundschaften haben einen Riss bekommen, sie erscheinen aus der Distanz des einsamen Orts nur noch fragwürdiger und brüchiger, und die einlangenden Briefe wirken beunruhigend auf ihn - und die Post kam damals noch zweimal am Tag. Der ungünstige "Barometerstand" der Wetterlage tut das seine, dem Herzkranken die wenigen Tage des Aufenthalts zu verleiden und ihn mit der Begrenztheit und dem nahen Ende zu konfrontieren. August 1924, in diesem Jahr sind bereits, wie Kappacher seinen H. konstatieren lässt, Franz Kafka und Joseph Conrad und Ferrucio Busoni gestorben, und steckt nicht schon im Titelwort Fliegenpalast eine Anspielung auf den Tod?

Kappachers Hofmannsthal-Roman - aber es spielt ja auch so offensichtlich eine Henry-James-Erzählung in das Sujet herein - ist vor allem ein Kappacher-Roman. Das Hinhören auf Hofmannsthals Sprache der Höflichkeit, die Zurückgenommenheit und Indirektheit der Rede- und Gedankenwiedergabe, dieses erzählerische Eisberg-Prinzip, das mehr mitzuteilen vermag als jede provokante Direktheit, das ist der Ton der Kappacher-Sprache, der sich hier bricht im Idiom des Hofmannsthal'schen Werkes und in dessen Denk- und Schreibmotiven die eigenen literarischen Intentionen zu behaupten weiß. Allein darin, wie es Kappacher gelingt, diese Nähe und Distanz zum Werk des andern herzustellen und im Ton des andern diskret den eigenen Erzählton zu finden, stellt der Roman ein Meisterwerk zeitgenössischer Erzählkunst dar.

Die Wunde Hofmannsthals

Aber ungewöhnlich und unerhört ist der Roman noch auf einer anderen Ebene. In der brutalen Zurückhaltung dieses Erzählens, die Martin Walser schon in Kappachers erstem Roman, Morgen (1974), aufgefallen war, taucht geradezu obsessiv die bedrängend gegenwärtige Geschichte des Weltkriegs auf. Die Erfahrung des Scheiterns, das Brüchigwerden aller Beziehungen und das Bruchstückhafte der eben in den Fuscher Tagen blockierten literarischen Arbeit am Timon, an Der Turm und am Andreas-Roman haben mit dem Krieg zu tun, der Hofmannsthals Welt zerriss und ihm den Eindruck gab, auf "irgendeine Weise" selber "verschüttet worden" zu sein. Kappachers Roman kehrt immer wieder zurück zum Krieg als der Katastrophe, an der H. selber mitschuldig wurde, als er zum Dreinschlagen auf die Serben aufrief, die militärische Vernichtung propagierte und die Rolle des Österreich-Ideologen annahm. Die Wunde Hofmannsthals, gibt uns Kappachers Roman zu verstehen, ist der Krieg, und der krisenhafte Zustand in Bad Fusch ist auf das Problem des Schreibens nach diesem Krieg und vor dem noch kommenden Krieg bezogen.

Kappachers epische Gerechtigkeit dem literarischen Vorgänger gegenüber liegt darin, wie er in der durchgehenden Thematisierung des Kriegs die Spuren eines Revisionsprozesses im Denken H.s sichtbar macht und einen verstehen lässt, wie H. in der Schreibkrise in Bad Fusch, als er nur mehr dramatische Bruchstücke sah und sich keine Verbindung mehr einstellen wollte, um eine Form rang, welche die bedrohliche Gewalt des heraufkommenden Faschismus adäquat zu erfassen imstande wäre. Seine "physische Anlage, die Abhängigkeit von der Beschaffenheit der Luft, die ... Wetterfühligkeit" , die ihm "in der Fusch" so übel zusetzen, sind zugleich die Disposition zu seinem krisenhaft geschärften, seismografischen literarischen Denken, das ihn die bisherigen Arbeiten als ungenügend empfinden lässt und der Erfahrung des Scheiterns aussetzt.

In den Tagen im salzburgischen Bad Fusch hat Hofmannsthal wirklich am Timon und am Turm arbeiten wollen, an den dramatischen Werken also, die seinen Begriff der Geschichte im Zeichen der Gewalt und des fortdauernden Ausnahmezustands am illusionslosesten dazustellen versuchen. Walter Benjamin wird den Turm wenig später als allegorische Dramaturgie des eigenen radikalen Geschichtsbegriffs verstehen und im Prinzen Sigismund den der Gewalt preisgegebenen, stumm gemachten nackten Menschen erkennen, jenen "homo sacer" , den Giorgio Agamben als Herausforderung der zeitgenössischen politischen Philosophie wiederentdeckt hat.

Kappachers Roman weist mit der ihm eigenen brutalen erzählerischen Zurückhaltung auf diese bestürzenden Zusammenhänge, die gerade dadurch erzählbar werden, dass er sie in der scheinbaren Unauffälligkeit seiner Erzählsprache so unabweisbar hervortreten lässt. So rettet er im eigenen Erzählen die Impulse von Hofmannsthals Leben und Schreiben gerade dort, wo jener jede Selbstsicherheit verloren hat und sich der Gefahr des Scheiterns aussetzt. Abenteuerlich hat Peter Handke die Unauffälligkeit von Kappachers Erzählen genannt, und sie als "etwas völlig Unverspieltes" bezeichnet, denn Kappacher ist für ihn "der ernsthafteste Autor" , den er kenne, sein Werk nennt er "eine Expedition des Schreibens, wie man sie sich abenteuerlicher nicht wünschen kann." (Hans Höller, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 24./25.01.2009)