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Foto: Archiv

"Wir werden gezwungen, uns anständig zu benehmen, ordentlich aufzutreten, zu lächeln, weil es ja immer sein kann, dass wir von irgendwo aufgenommen werden. (...) Die Fototechnik bestimmt unser Leben." Der Mann, der das sagt, ist nicht irgendjemand. Er ist kein Benimm-Professor, kein Society-Psychologe, kein Medien-Philosoph. Steven Sasson heißt der Mann, der uns alles eingebrockt hat: Der 58-jährige Amerikaner mit dem kantigen Gesicht ist der Ingenieur, der die erste Digitalkamera gebaut hat.

1975 schreibt man, der Vietnamkrieg endet mit der Einnahme Saigons durch die kommunistischen Streitkräfte, in Österreich führt Bruno Kreisky die Fristenlösung ein, im Kino laufen "Taxi Driver" und "Der weiße Hai", auf den Plattentellern drehen sich "Wish You Were Here" von Pink Floyd und "Bohemian Rhapsody" von Queen. In Deutschland erscheint die erste Nummer von YPS, und in Gerald Fords USA gründen Bill Gates und Paul Allen ein Unternehmen namens Microsoft.

Und in der Entwicklungsabteilung des Foto-Riesen Eastman-Kodak schraubt Steven Sasson derweil die erste Digitalkamera der Welt zusammen. Das Ding wiegt gut vier Kilogramm, sieht aus wie ein Toaster, den er mit einem Episkop gekreuzt hat.

Auf der linken Seite der Bastelarbeit sitzt eine Halterung, in der eine simple Audio-Kassette steckt - der Magnet-Speicher der seltsamen Apparatur. 23 Sekunden dauert die erste Digitalaufnahme der Welt. Der Bildsensor hat die atemberaubende Auflösung von 0.01 Megapixel. 100 mal 100 Pixel misst der Chip, den Sasson eingebaut hat.

Als Porträt-Model für das erste Digitalfoto wird eine Laborassistentin überredet. Und die ist alles andere als angetan von dem Ergebnis, das Sasson auf einem stinknormalen Fernsehapparat wiedergibt. "Man konnte die Silhouette ihres Haars sehen", erinnert sich Sasson, aber ihr Gesicht sei völlig verwischt gewesen. "Da braucht's noch Arbeit", war der trockene Kommentar der Porträtierten zum ersten Digitalporträt der Welt.

Ende der Privatheit

Gute 34 Jahre sind seither vergangen, Digitalkameras haben die Größe von Kaugummipackungen, stecken als Gadget in jedem Teenie-Handy, und selbst Profi-Geräte wie die Hasselblad H3DII-50 mit unfassbaren 50 Millionen Mega-Pixel gehören zum Alltag des Bildermachens. Nur eines hat sich seit der ersten digitalen Aufnahme nicht wirklich verändert: Die Unzufriedenheit der Aufgenommenen mit ihrem Bild.

Dabei wäre doch alles so einfach, ist doch die Suche nach misslungenen Bildern heute keine Hexerei mehr. Eigentlich. Zehntelsekunden nach der Aufnahme ist ein Digitalbild über das Display abrufbar. Die Anzahl der möglichen Bilder ist ins Unüberschaubare angewachsen, Speicherkarten fassen vierstellige Bilderreihen. Dieser Luxus sollte zu besseren Ergebnissen führen. Tut er aber nicht.

Wanderten Bilder früher in den Schuhkarton und ins Portemonnaie oder, als Gipfel der Öffentlichkeit, in den Diaprojektor, so flitzen sie heute per E-Mail oder Upload um den Globus.

Schuhkartons und Dia-Abende - mehr an Öffentlichkeit mussten Porträtierte, waren sie keine Prominente, 1975 nicht befürchten. Das hat sich radikal geändert. Flickr und Facebook verbreiten Schnappschüsse um die Welt, YouTube ist der Weltenspeicher für selbstgedrehte Film-Clips. Das Private existiert nicht mehr. Wir sind jederzeit und überall in Gefahr, abgelichtet zu werden. Und online gestellt zu werden.

Aber führt das tatsächlich zu Sassons Befund, die Gesellschaft befände sich im Zustand des Dauerlächelns? Je nachdem, welche Standards des idealen Porträts sich lokale Kulturen verordnen: Amerika mit seiner Tradition des Foto-Cheesings mag sich durchaus anders präsentieren als Europa mit seinem ikonographischen Gedächtnis, das den grantigen Blick kultiviert hat. Von Mona Lisa und Karl Heinz Grasser einmal abgesehen.

Mit dem globalisierten Privatfoto-Schuhkarton, mit der googlebaren Foto-Identität gehen Jüngere gewiss souveräner um als die Alt-78iger und Alt-88iger. Ein Blick auf die Fotoalben, die Facebook-Teenies hochgeladen haben, zeigt diesen Paradigmenwechsel im Umgang mit der eigenen Privatheit sehr anschaulich. Facebook-Foto-Alben mit hunderten Bildern sind keine Seltenheit.

Bilder sollen gesehen werden

Dabei ist solche Bilderflut weder bemerkenswert noch bedenklich, sondern schlichtweg normal. Denn eine Paranoia der Kalte-Krieg-Generation scheint langsam abzuschmelzen: Die Angst vor dem Missbrauch des eigenen Bildes. Wer will Trilliarden von "Privatbildern" durchschnüffeln? Und selbst, wenn er sich daran versucht. Welchen geheimen Informationswert haben Bilder, die einzig dazu erzeugt wurden, um, genau, veröffentlicht zu werden?

Wer sich privat in der Öffentlichkeit bewegen will, muss auch heute noch zu den Accessoires der Promis greifen, Baseballcap und Ray-Ban. Denn die Kamera, die durch dunkle Sonnenbrillen fotografieren kann, muss erst entwickelt werden. Aber wer weiß, vielleicht arbeitet Steven Sasson ja schon daran. (Andrea Maria Dusl / DER STANDARD RONDO, 23.01.2009)