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Der pathologische Internetgebrauch kann verschiedene Bereiche betreffen: Neben dem Spiele- und Kommunikationssektor treten Abhängigkeiten häufig im Berech der Pornografie auf

Foto: APA/dpa/Linden Research

Rote Haare oder doch lieber blonde? Kleid, Hose oder nackt? Einkaufen, Schachspielen, Reisen oder Sex? Die Wählmöglichkeiten in der Internet-Welt "Second Life" sind unzählig. Mittels künstlichem Stellvertreter, dem so genannten Avatar, können Stunden in der virtuellen Welt verbracht werden. Aber nicht nur 3D-Online-Welten, auch andere Anwendungen wie Online-Shopping, Chats, Social Networking Sites, Diskussionsforen, Messaging oder Rollenspiele laden zum Verweilen im Internet ein. Doch sind Menschen, die ständig online sind, bereits internetsüchtig?

Faszination oder Sucht?

Was nun genau unter der so genannten "Internetsucht" - dem pathologischen Internetgebrauch - zu verstehen ist, darüber sind sich Mediziner uneinig. Die Vorstellung vom jugendlichen Computerspielsüchtigen, der sich mit Online-Spielen die Nächte um die Ohren schlägt, greift zu kurz. Während einige Experten dem zeitlichen Aspekt als Suchtkriterium - etwa die Überschreitung eines täglichen Internetkonsums von sechs Stunden - Bedeutung zumessen, lehnen dies andere Forschende ab. "Ausschlaggebend sind Suchtkriterien, die qualitativ und nicht quantitativ feststellbar sind. Psychische Abhängigkeit ist mit Dosisgrenzziehungen nicht erfassbar", sagt Hans Zimmerl, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie.

Internetsucht ist eine stoffungebundene Sucht und durch exzessiven Gebrauch des Mediums gekennzeichnet. Von Sucht kann erst gesprochen werden, wenn das Internet erste Priorität erlangt und die online verbrachte Zeit nicht mehr kontrolliert werden kann. Das exzessive online-sein wirkt sich in weiterer Folge sowohl körperliche als auch psychosozial aus: Mangelernährung, Schlafstörungen, Erschöpfungszustände, Schäden am Bewegungs- und Sehapparat, soziale Selbstisolierung, Arbeitsplatzverlust oder schulisches Versagen. Ist es für betroffene Personen nicht möglich, online zu sein, setzen Entzugssymptome wie Reizbarkeit, Nervosität, Unruhe oder Niedergeschlagenheit ein. Trotz dieser negativen Auswirkungen ist die abhängige Person nicht fähig, ihr Verhalten zu korrigieren.

Spielen, Shoppen oder Chatten

Der pathologische Internetgebrauch betrifft verschiedene Bereiche: Neben dem Spiele- und Kommunikationssektor (Chats, Newsgroups, Messaging, Social Networking Sites, Rollenspiele) treten Abhängigkeiten häufig im Berech der Pornografie auf. "Diese drei Bereiche weisen ein sehr hohes Suchtpotenzial auf, wobei bei der "Onlinesexsucht" noch der komplizierende Faktor der gesellschaftlichen Tabuisierung hinzukommt", so Zimmerl.

In den genannten Bereichen gehen Experten von rund drei Prozent Süchtigen der täglichen Nutzer aus. Die Dunkelziffer liege laut Zimmerl aber höher als die geschätzte Prozentzahl, denn Personen, die sich öffentlich zu "Onlinesexsucht" oder Ähnlichem bekennen, sind selten. Das Anton-Proksch-Institut in Wien, Europas größte Suchtklinik, geht von 80.000 bis 120.000 internetabhängigen Österreichern ab 14 Jahren aus.

"Technologien der Verführung"

Kommunikationswissenschafterin Gerit Götzenbrucker sieht besonders im Beziehungsaspekt, der bei Online-Spielen und -kommunikation eine wesentliche Rolle spielt, einen suchtgefährdenden Faktor: "Spieler suchen Anschluss in Gilden oder Clans und sind denselben auch verpflichtet. Nutzer von Social Networking Sites, wie StudiVZ oder Facebook wollen dabei sein und den Anschluss nicht verlieren." Computerspiele und Netzwerkseiten seien zwar "Technologien der Verführung", würden aber im Normalfall eine Ergänzung zum physischen Alltagsleben sein und den Beziehungsspielraum erweitern: "Ganz ersetzen wird die computervermittelte Kommunikation soziale Face-to-Face Beziehungen wahrscheinlich nie", meint Götzenbrucker.

Internetsucht keine Krankheit

Als eigenständiges Krankheitsbild scheint Onlinesucht im offiziellen Klassifizierungssystem psychischer Störungen nicht auf. Was nicht ist, kann noch werden: "Auch die Anerkennung anderer Süchte, wie beispielsweise der Glücksspielsucht hat sehr lange gedauert", so Zimmerl. Der Ernst der Problematik wird aber zunehmend erkannt: Ausgehend von den USA und Asien werden Mediziner im europäischen Raum für die Internetabhängigkeit sensibilisiert. In Amsterdam eröffnete eine Klinik für Videospielsüchtige, und auch in Deutschland und Österreich wird der Thematik Onlinesucht verstärkt Aufmerksamkeit gewidmet.

Betroffene sehen das Internet oft als einen Weg, um vor Problemen in eine Scheinwelt zu fliehen. Die exzessive Nutzung ist laut Klaus Wölfling, dem psychologischen Leiter von Deutschlands erster Ambulanz für Internetsüchtige, meist Ausdruck und Symptom weiterer Probleme und psychischer Störungen. "Exzessiver Internetgebrauch geht oft mit anderen Begleiterkrankung wie Depressionen, niedrigem Selbstwert oder Angststörungen Hand in Hand", so Wölfling. Aber auch bei "gesunden Persönlichkeiten" kann die Internetnutzung beispielsweise durch den Beziehungsaufbau zu anderen Usern eine Eigendynamik entwickeln, die Personen an das Netz bindet, so Wölfling.


Behandlung: Abstinenz nicht sinnvoll

Eine abstinenzorientiere Therapie ist weder praktikabel noch sinnvoll, das Internet gehört bei den meisten Österreichern bereits zum Alltag. "Die Diagnose soll mehrdimensional und die Therapie sehr individuell erfolgen", empfiehlt Zimmerl. Therapiemaßnahmen zielen auf eine reduzierte Internetnutzung ab. Ob eine Person vom Internet abhängig ist, wird in Deutschlands erster Ambulanz für Internetsüchtige durch Tests und Einzelgespräche herausgefunden. Wird eine positive Diagnose gestellt, bietet die Mainzer Universitätsklinik gruppentherapeutische Behandlung für Betroffene an. "Die Gruppen umfassen maximal acht Patienten, die 90-minütigen Treffen finden wöchentlich statt. Hinzu kommen begleitende Einzelgespräche", sagt Klaus Wölfling. Die Betroffenen sollen schrittweise dazu gebracht werden, ihre Sucht und die daraus entstehenden Probleme als solche zu erkennen und aus eigener Kraft zu überwinden.

Neuer Behandlungsansatz in Österreich

Auch in Österreich wird die Problematik zunehmend erkannt. Das Anton-Proksch-Institut bietet Betroffenen und Angehörigen Informations- und Beratungsgespräche, ambulante Behandlung und, wenn notwendig, auch stationäre Therapie. Die Suchtklinik hat ein Therapiekonzept entwickelt, das über die herkömmlichen Ansätze in der Suchttherapie hinausgeht. Die Stärkung der individuellen Ressourcen der Patienten steht dabei im Vordergrund. Mittels Kreativwerkstätten, Gartentherapie, philosophischen Aktivitäten, Mal- und Gestaltungstherapie, Freizeitpädagogik oder Qigong soll den betroffenen Personen zu einer Lebensneugestaltung geholfen werden. Das neue Behandlungskonzept namens "Orpheus" kommt sowohl bei stofflichen als auch bei nicht-stofflichen Abhängigkeiten zum Einsatz. "Ziel ist die Erhöhung der Lebensattraktivität und ein autonomes und freudvolles Leben führen zu können", erklärt der ärztliche Direktor des Anton-Proksch-Instituts, Michael Musalek im Rahmen der Pressekonferenz "Neue Sicht auf die Sucht" in Wien. (Ursula Schersch, derStandard.at, 29.01.2009)